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Entstehungszeit: (Arnstadt/Mühlhausen-) Weimar / Leipzig

In diesem vielgespielten Standardwerk hat Bach zu einer Sicherheit und Konzentration der Gesamtformung, zu einer präzisen Geschmeidigkeit und Plausibilität im einzelnen gefunden, die lange dazu verführte, eine spätere Entstehungszeit als die tatsächliche anzunehmen – so sehr tritt hier uns das entgegen, was wir als den typisch “klassischen” Bach ansehen. Es ist ja besonders der sich hier abrundende Bachsche “C-Dur-Stil” gewesen, der nachfolgenden Generationen als zeitlos-beispielhaft erschienen ist. Nicht von ungefähr begeistert sich etwa ein Mendelssohn gerade für die Fuge aus BWV 545, deren Schluß er sich –wie er in seinen “Reisebriefen” schildert– immer und immer wieder vorspielt: es sind die klassisch-romantischem Empfinden so entgegenkommende harmonische Auffassung (mit für die Entstehungszeit moderner Betonung des authentisch-dominantischen Elements) und die perfekte, von spezifisch barocker Kräuselung freie Glätte, die ihn so für das Stück eingenommen haben mögen.

Die Musikwissenschaft hat inzwischen nachgewiesen, daß das Werk in einer ersten Endfassung bereits vor 1717, also in Weimar fertig vorgelegen hat (Abschrift des in Weimar wirkenden Bachvetters Johann Gottfried Walther, 1684-1748). Darüber hinaus sind zwei Weimarer Frühfassungen belegbar (545a, vollständig erstmalig 1964 veröffentlicht) bzw. aus einer wahrscheinlich auf den Weimarer Bachschüler Johann Tobias Krebs zurückgehenden, nach B-Dur transponierten Version (545b, Erstveröffentlichung 1959) erschließbar. Diese Frühfassungen fordern dazu heraus, eine Arnstädter/Mühlhausener Urfassung anzunehmen, in der Präludium wie Fuge (noch ohne das unabhängig entstandene, erst der Weimarer Endfassung beigegebene a-moll-Trio) in allen wesentlichen Zügen bereits existierte. Nur so sind derzeit Eigentümlichkeiten des Präludiums in beiden Frühfassungen erklärbar. Während die dreitaktige Introduktion der Endfassung hier noch grundsätzlich fehlt, ist die Situation hinsichtlich der dreitaktigen Schlußcoda unterschiedlich: in 545a fehlt sie ganz, in 545b lautet sie anders als in der Endfassung. Die Lösung ergibt sich aus einer Rücktransposition von 545b nach C-Dur: die Codatakte reichen nunmehr bis zum hohen d′′′ hinauf. Dieser Ton war auf der Weimarer Schlossorgel nicht vorhanden, wohl aber auf den Orgeln zu Arnstadt und Mühlhausen. Um das Stück in Weimar spielbar zu machen griff man zu verschiedenen Mitteln: (wohl) Bach selbst strich einfach die unspielbare Coda und beließ es im übrigen zunächst bei der Urfassung. Das wäre die uns überlieferte Fassung 545a. (Wohl) J.T. Krebs wählte einen anderen Weg; er transponierte die Urfassung, deren Fuge Bach mittlerweile zur Form der späteren Endfassung revidiert hatte, nach B-Dur hinunter. Dadurch wurde das d′′′ zu einem c′′′, das die Weimarer Orgel zu bieten hatte. (Weitere Eigentümlichkeiten von 545b in der uns überkommenen Gestalt siehe Schlußbemerkung). Zur endgültigen Lösung des Problems schritt dann wieder Bach selbst, indem er eine neue, den Weimarer Orgelverhältnissen Rechnung tragende Coda komponierte und gleichzeitig dem Präludium eine inhaltlich mit der Coda korrespondierende Introduktion voranstellte; dazu fügte er als Mittelsatz zwischen Präludium und Fuge die Frühfassung des a-moll-Trios bei. Eine in Leipzig nach 1730 entstandene Fassung letzter Hand unterscheidet sich in Präludium und Fuge kaum von der Weimarer Endfassung (verbesserte Lesarten); das Trio hingegen wurde eliminiert und in revidierter Fassung der Orgeltriosonate Nr.5 (BWV 529) als langsamer Satz zugewiesen.

Das Präludium beginnt mit majestätischen, auskomponierten Akkordfolgen – es ist die dreitaktige Introduktion der Endfassungen:

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In Takt 4 begegnen wir dann dem eigentlichen Thema des Präludiums. In den Frühfassungen hatte es an dieser Stelle (dem ursprünglichen Takt 1) so gelautet, wie es im folgenden –motivische Einheitlichkeit und festen Zusammenhang in meisterlicher Weise stiftend– das ganze Stück durchzieht:

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Diesen einstimmigen Beginn der Frühfassung (über c-Orgelpunkt im Pedal) spaltet Bach nun (nur in diesem einen Takt!) in zwei Stimmen auf und setzt noch eine freie dritte Stimme hinzu, während im Pedal der Orgelpunkt beibehalten wird. Damit schafft er einen organischen Übergang von der fünfstimmigen Introduktion zum vierstimmigen Kernteil (Takte 4-27)

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Ein interessanter Beleg für die Verwandlung latenter zu realer Mehrstimmigkeit!

Das Pedal bleibt thematisch zunächst ganz ausgeschlossen; neben Orgelpunkten bietet es Generalbassformulierungen mit eigener Motivik:

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und

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Erst abschließend (Takte 24-27) bemächtigt es sich, nun dominierend, in einer sequenzierenden Kette der zweiten Hälfte des Themas. In Takt 27 beendet eine glanzvolle Kadenz den thematischen Kernteil des Präludiums; es folgen –wieder fünfstimmig– die drei oben so ausführlich behandelten Codatakte, die der Introduktion inhaltlich entsprechen und damit das Präludium überzeugend abrunden.

Das Trio a-moll (BWV 529/2) gehört auch in seiner Weimarer Frühfassung zu einer der schönsten Eingebungen für Orgel, die Bach uns hinterlassen hat. Näheres zu dem Stück bei der Besprechung der Triosonaten (BWV 525-530).

Die Fuge ist von wunderschöner Plastizität, klassisch regelmäßig gebaut, italianisierend-melodisch in der Stimmführung. Dem ganz vokal geprägten Thema

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in ruhigeren Halbe-/Viertel-Werten treten instrumental geführte, eher Achtelbewegung bevorzugende Kontrapunkte entgegen, an denen das Mithören erleichternde, gefällige Dreiklangsfigurationen einen nicht unerheblichen Anteil haben.

Nach dem in Takt 35 schließenden Expositionsteil, markiert durch die hier endende erste Pedalpartie, folgt ein ausgedehnter Mittelteil, der den Eindruck vielfältigen Geschehens dadurch erzeugt, daß er die funktionsharmonisch verwandten Bereiche G-Dur, a-, d- und e-moll durchschreitet, um schließlich über G- und C-Dur die Subdominante F-Dur zu erreichen; weitere Intensivierung ergibt sich daraus, daß die Achtelbewegung der Kontrapunkte mehr als zu Anfang auch auf die ab Takt 45 wieder mitmusizierende Pedalstimme übergreift. Durch erneutes Verstummen setzt das Pedal Takt 85 eine zweite Zäsur; die Musik setzt nun -ohne auf kontrapunktische Mittel wie Engführungen zurückzugreifen- zu einer beschwingten und klangschönen Schlußsteigerung an, die sich mit zwei letzten Themeneinsätzen – machtvoll auf tiefem C im Pedal, triumphal glänzend im Sopran – überwältigend erfüllt.

Anmerkung zu BWV545b:
BWV 545b ist ein Arrangement, dessen Echtheit bis in jüngste Zeit sehr in Zweifel wurde und darum zunächst keine Aufnahme in die NBA gefunden hat. Inzwischen wird es aber demjenigen Bestand an bisher angezweifelten Werken zugerechnet, “für die [...]” – so heißt es im Vorwort zu NBA IV/11 (S. V) – “Bachs Autorschaft nach heutigem Wissen entweder als gesichert gilt oder zumindest ernsthaft in Betracht zu ziehen bleibt”; dementsprechend ist BWV 545b in diesen Band der NBA mit einbezogen worden. Die Quelle für BWV 545b wurde 1959 in London erstmals veröffentlicht; sie stammt aus dem 18. Jahrhundert (England vor 1772). Da sie den Tonumfängen nach in England damals auf keiner Orgel gespielt werden konnte, muß ihre Vorlage aus Kontinentaleuropa stammen. Sie enthält das Präludium in Urfassung nach B-Dur transponiert, ein 14taktiges Adagio unbekannter Herkunft, dann einen spieltechnisch sehr anspruchsvollen und langwierigen Triosatz in g-moll, der auf eine Frühform des 3. Satzes der Gambensonate BWV 1029 (für Streichtrio) zurückgehen muß, sodann ein viertaktiges Tutti unbekannter Provenienz und die Fuge in der revidierten Fassung nach B-Dur transponiert. Über den Weg dieser Version nach England gibt es nur interessante Vermutungen. Ob dieses kuriose Konglomerat jemals Eingang in ein Programm mit Bachscher Orgelmusik finden wird, bleibt dahingestellt.

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by-sa

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