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Entstehungszeit: Arnstadt

Bei näherem Hinsehen ist nicht recht zu begreifen, warum unter den Bachschen Frühwerken für Orgel dies Stück so ganz und gar gering geachtet wird. Bei einer Wiedergabe, die von derselben positiven Grundeinstellung und derselben sorgfältigen Vorbereitung ausgeht, wie sie für “anerkanntere” Orgelkompositionen Bachs selbstverständlich sind, ist ein solider und interessanter musikalischer Gesamteindruck durchaus nichts Unerreichbares. Man wäge im einzelnen gegeneinander ab, was dem jungen Bach hier und in anderen, relativ häufiger gespielten Frühwerken wie BWV 531, 549 und teilweise 566 an satztechnischen und gestalterischen Unebenheiten unterläuft: Präludium und Fuge a-moll/BWV 551 stehen bei einem solchen Vergleich eher besser da!

Zwei Gründe mögen es sein, daß sich kaum einmal ein praktizierender Organist mit dieser Komposition befaßt: zum einen ist es die harte Aburteilung durch Hermann Keller (S.48/49: “…das unvollkommenste aller freien Orgelwerke Bachs…”), die auf einer nicht ausreichend gründlichen Analyse fußt (“ohne thematische Einheitlichkeit”). Die beiden Fugenthemen weisen durchaus einen inneren Bezug zueinander auf, denn der absinkenden Chromatik des ersten Themas entspricht die aufsteigende des zweiten. Ferner handelt es sich bei dem in Takt 65ff. auftauchenden Gedanken nicht um ein neues, beliebiges Motiv, vielmehr setzt eine Variante des zweiten Themas ein!). Zum anderen ist es das außerordentliche Maß an stilistischer Rückwärtsgewandtheit in den Fugen, das unter den Orgelwerken nur noch ein Pendant in BWV 588 und 1121 findet. So wird die eher auf Hochbarockes fixierte Hörerwartung, die dazu noch ständig nach schon “bachischen” Wesens- und Stilmerkmalen fahndet, von der altertümlich sperrigen Machart irritiert und enttäuscht. Stellt man sich aber innerlich auf die Tatsache ein, daß Bach sich hier an einer Tradition chromatischer Satztechnik für Tasteninstrumente orientiert und schult, wie sie im frühen 17. Jhdt. Trabaci, Sweelinck u.a. entwickelt und gepflegt hatten und wie sie sich über Frescobaldi und Froberger noch bis zu Buxtehude lebendig erhalten hatte, so erweist sich schnell, daß hier sauber, konzentriert und mit klarem Konzept gearbeitet wird. Besonders die zweite Fuge – schon ihr Doppelthema weist erhebliche Ähnlichkeit mit einem entsprechenden Gedanken Sweelincks auf (s.u.) und erinnert gleichzeitig an Nahestehendes bei Buxtehude (2. Teil der 2. Fuge im großen e-moll-Präludium für Orgel BuxWV 142) – gerät zu gekonnter Assimilation an diese alte Machart!

Was die Gesamtformung angeht, so hält sich Bach an das bekannte zeitgenössische Formschema des norddeutschen Orgelpräludiums (“Tokkatenform”). Es besteht in der Regel aus einer fünfteiligen Reihe: Präludium/ Tokkata – Fuge 1 – Rezitativ (figurativen und/ oder akkordischen Typs) – Fuge 2 (oft, nach altem Canzonenvorbild, mit einer Verarbeitung des Themas der 1. Fuge in einer 3/2-Takt-Version) – Schlußtokkata. Bach hat diese mehrteilige Form nur noch einmal, und zwar in BWV 566, einem weiteren Jugendwerk, aufgegriffen.

Das Präludium beginnt mit schlichter Diatonik (Kontrast zu den Fugen!). Wir hören die typischen Skalen und Skalenausschnitte in Terz– und Sextparallelen der Buxtehude-/Pachelbelära. Ein Pedaleinsatz (Treppenschritte abwärts) führt rasch zum Abschluss.

In Takt 12 setzt das Thema der 1.Fuge ein:

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Der depressiv absteigende chromatische Grundlinienzug, ist mit x gekennzeichnet (vgl. Thema der 2. Fuge). Ihm entspricht ständiges Absinken der inneren Gesamtspannung der Fuge, dadurch hervorgerufen, daß die dicht aufeinanderfolgenden Einsätze des Themas (es gibt fast gar kein Zwischenspiel!) immer tiefer die einzelnen Stimmen durchwandern. Folgender Überblick, der jeweils nur die ersten beiden Noten der Themeneinsätze zusammenfaßt, kann das veranschaulichen (Tenorstimme mit zwei Einzelstimmen: scheinbare Fünfstimmigkeit, die abfallende Einsatzkette wird dadurch noch länger):

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Zugleich wird dabei auch deutlich, daß die Grundtonart a-moll nicht verlassen wird. Erst als Abschluß erfolgt, kurz und bündig, eine Modulation in die Paralleltonart C-Dur (Takte 27/28).

Zwischen der ersten und zweiten Fuge vermittelt das anschließende Rezitativ (Takte 29 bis 39). Die ersten drei Takte figurieren steigernd den C-Dur-Akkord aus. Dann setzt Bach auf das c des Basses einen doppeldominantischen Sekundakkord, aus dem sich in langen Notenwerten eine jener typischen, an übergebundenen Dissonanzen und harmonischen Überraschungen reichen Akkordfolgen entwickelt, wie wir sie aus der Orgelmusik des Buxtehudekreises kennen, und die auf einen entsprechenden Tokkatentyp Frescobaldis zurückgehen (“durezze e ligature”). In Takt 38/39 ist die Dominante E-Dur erreicht — es setzt

das Thema der 2.Fuge, die sich sogleich als Doppelfuge erweist, in Sopran und Alt ein:

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Auf die Korrespondenz zwischen der absteigenden Chromatik des ersten Themas und der aufsteigenden des zweiten (x) wurde schon hingewiesen. Es handelt sich hier also nicht um eine Doppelfuge jenes Typs, die ein vorher separat behandeltes Thema mit einem weiteren kombiniert (wie in BWV 574), sondern um ein sofort zweistimmig präsentiertes Sujet (Simultanfuge). Die Ähnlichkeit mit einem Thema von Sweelinck ist deutlich (Zitat nach Keller):

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In einem ersten Abschnitt werden fünf dicht aufeinanderfolgende Einsatzpaare des Themas (viermal Dux-Comes, das fünfte Mal Comes-Dux) gebracht. Die Grundtonart a-moll wird, wie schon in der ersten Fuge, kein einziges Mal verlassen. Es wäre verfehlt, darin jugendliches Ungeschick oder gar modulatorische Phantasielosigkeit zu erblicken. Hier ist einfach nur einkalkuliert, daß die vielen en-passant-Modulationen und Rückungen, die die chromatische Setzart mit sich bringt, schon genug für Farbe und harmonische Abwechslung sorgen. Gleichzeitig oder nur wenig später entstandene Cembalokompositionen zeigen, wie gern und ausufernd der junge Bach zu modulieren verstand, wenn es ihm darauf ankam! Daß das Aussparen des Modulatorischen in unserem Stück ein auf Disposition beruhendes Aufsparen war, zeigt klar das Folgende: Zum Schluß des eben besprochenen Abschnitts bringt Bach nun eine Modulation, und zwar eine außerordentlich überraschende, ruckartige Wendung von a– nach c-moll (Takt 62/63). Keller nennt sie “etwas befremdend”; so wirkt sie in der Tat, wenn man wie er nicht erkennt, auf welchen thematischen Vorgang sie als klangliches Ausrufezeichen, als musikalischer Doppelpunkt hinweisen will. Denn der im ersten Moment als etwas zusammenhanglos Neues erscheinende Gedanke, der nun folgt,

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erweist sich als eine Variante des (Gesamt-!-)Themas. Es handelt sich nämlich nicht nur um eine auskolorierte, rhythmisch verzerrte Version der Oberstimme: auch der Beginn der ehemaligen zweiten Stimme ist miteinbezogen. Somit liegt das ursprüngliche zweistimmige Thema auf einen einstimmigen Linienzug gebündelt und konzentriert vor!

Nicht nur der modulatorische Überraschungseffekt und die neue Themenversion sorgen für Steigerung: auch die dichtgedrängten, als Quintkanons gebrachten Einsatzfolgen der Themenvariante zielen in dieselbe Richtung. Es sind drei (jeweils zwei Einsatzpaare umfassende) Gruppen, die nun auch in verschiedenen Tonarten, nämlich c-, g– und d-moll stehen. Die Modulationen werden witzig dadurch bewerkstelligt, daß am Ende der beiden ersten Tonartgruppen jeweils ein überzähliger Scheineinsatz in der alten Tonart (nur aus den ersten acht Sechzehnteln bestehend) zu einem echten Themeneinsatz in der neuen Tonart überleitet (Takte 65/66 und 69/70). In Takt 73 ist die Haupttonart wieder erreicht, der Abschnitt geht mit einer deutlich markierenden Kadenz zuende. Die kleine, nun wieder schlicht diatonisch gehaltene Schlußtokkata verwertet wie das Präludium die Formelwelt der nord– und mitteldeutschen Orgelschulen (Skalen, geschüttelte Akkorde, Pedalsolo, Orgelpunkte). Harmonisch handelt es sich um eine einfache breit auskomponierte Plagalkadenz. Als einzige eigenwillig-originelle Wendung fällt in den Takten 84/85 der akademisch nicht ganz einwandfreie Absprung des Pedalbasses vom subdominantischen Orgelpunkt in den Grundton aus dem Rahmen.

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by-sa

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