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Entstehungszeit: (Weimar-Köthen-) Leipzig

Beachten Sie auch die Einführung zu den Triosonaten!

Die herrliche c-moll-Sonate ist in Form und Diktion wesentlich komplizierter und aufwendiger gestaltet. Ihr 1.Satz (Vivace; Typus 1 im Hauptsatz, sonst auch Typus 2) beginnt mit dem folgenden, feurigen und charakteristischen Einfall:

Hauptthema (Gedanke a)

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Er ist in eine achttaktige Periode eingebaut (a + 2 Takte Sequenzen; a + 2 Takte Schlußbildung). Mit ihrer Wiederholung geht in den Takten 71-78 auch der Gesamtsatz zu Ende. Sie hat somit die Funktion des Tuttiritornells (Hauptsatzes) aus dem Vivaldischen Instrumentalkonzert. Nun schließt sich ein 16taktiger Seitensatz an, der, von der Grundtonart c-moll ausgehend, die Durparallele Es-Dur erreicht. In ihm spielen zwei neue Gedanken eine Rolle:

(Gedanke b)

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(Gedanke c, als Fortspinnung aus Gedanke b entstanden)

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Gedanke b wird imitierend verarbeitet, c desgleichen, jedoch sequenzierend über absteigender Baßlinie, all dies musikalisch im Sinne der auflockernden Episode (siehe Einleitung). Der Abschnitt umfaßt wieder acht Takte.

Nur sechs Takte dauert der folgende Hauptsatz (Gedanke a) in Es-Dur; er wird nur zur Hälfte zitiert und durch eine zweitaktige, charakteristische Trillerkettenpartie ergänzt, die später (66-70) nochmals eine Rolle spielt. Sie leitet nach f-moll, in die Subdominante über.

Nun greifen – mit vertauschten Stimmen – die Gedanken b und c wieder ein. Sie führen schließlich zur Molldominanttonart g-moll, in der dann auch – diesmal vollständig – der Hauptsatz (Gedanke a) zu hören ist. Damit geht der erste große Abschnitt des Satzes zu Ende. In Zusammenfassung sieht er so aus:

Taktzahl/ Gedanken

8(a) + 8(b,c) + 6(a’, tr) + 8(b,c) + 8(a)

Tonarten

c c Es f g
 

Im folgenden sorgt Bach mit zwei großen, orgelpunktgestützten Klangflächen in g- und c-moll, die schon durch die einfache harmonische Grundlage weniger dicht wirken als das Vorangegangene, für Kontrast und Abwechslung. Der Orgelpunkt des Pedals wird jeweils zunächst in Achtelsprüngen getupft, dann lang ausgehalten, während sich die Manualstimmen in Skalenausschnitten und Dreiklangsbrechungen bewegen – also auch hier geringere Konzentration. Nur gegen Ende der beiden Episoden (die bei vertauschten Oberstimmen identisch sind) taucht Gedanke a en passant auf. Die Partie umfaßt zweimal acht Takte und endet in f-moll. Auch die beiden weiteren, achttaktigen Gruppen, die nun wieder einer konzentrierteren Kontrapunktik Raum geben, erwecken den Eindruck, als ließe die Musik ungern von ihrer eben gewonnenen Freiheit thematisch ungebundenen Fortspinnens. Lediglich in den Takten 61/62 (=3/4), sowie mit einigen Anklängen an Gedanke b (62f.) und den verlängernd aus 20-22 aufgegriffenen Trillerketten wird noch Verbindung zum Gedankengut des ersten Teils aufrechterhalten. Letzterem steht also mit den eben besprochenen 32 Takten ein fast gleich langer Teil gegenüber, der sich zu einer Art locker-improvisatorischer “Durchführung” im Sinne jenes Typs der klassischen Sonate auswächst, deren Durchführungsteil geringe thematische Bezüge aufweist.

Erfrischend, wie ein “klärendes Wort”, wirkt es, wenn dann – nach Abschluß der Trillerketten auf der Dominante G-Dur und einer ganz knappen Pedalüberleitung – die acht Eingangstakte (Hauptsatz, Gedanke a) den Satz reprisenartig abschließen, und damit der Weg in streng themenbezogene Bereiche zurückgefunden ist.

Wie eine freie Improvisation wirkt bei erster Bekanntschaft der 2.Satz (Es-Dur, Largo; bedingt Typus 3): in eigenartig “versunkener” Stimmung ranken sich die Oberstimmen, schreitet der Baß dahin, alle Stimmen fast ohne Pause, beinahe 50 Takte lang. Der nicht zuletzt wegen seiner harmonischen Einbettung so schöne Eingangsgedanke

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– man könnte seinen Stimmungsgehalt wie den des ganzen Satzes mit dem Begriff überwundenen, verklärten Schmerzes definieren– scheint nach den ersten 16 Takten ganz in Vergessenheit zu geraten, wie in diesem Stück auch manch anderer Gedanke auftaucht und wieder verschwindet. Aber der erste Eindruck täuscht! Bach stellt doch eine Vielfalt von Bezügen durch Wiederholungen und -aufgreifen her.

Zu Anfang ist noch alles deutlich und erwartungsgemäß geordnet: der Eingangsgedanke, von gesanglichen Linien fortgesetzt und insgesamt zu einer achttaktigen Phrase geformt, wird mit vertauschten Oberstimmen auf der Dominante B-Dur wiederholt. Eine viertaktige Überleitung (sie moduliert von B-Dur in die Parallele c-moll) führt uns zu einer Gruppe aufsteigender Sequenzen (Takte 20-24), die (dann in g-moll) noch einmal in den Takten 35-38 Verwendung findet. Gleich anschließend in Takt 25, also genau in der Mitte des Satzes, erscheint, kaum wahrnehmbar im Pedal, doch noch einmal der Eingangsgedanke von

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zu

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umgewandelt. Gleich originell wie unauffällig ist auch die Idee, in den Takten 28-31 (Alt) und 39-41 (Sopran) den eigentlich völlig belanglosen Haltenoten-Kontrapunkt der thematischen Phrase (s.o., 1. Beispiel) mit neu hinzuerfundenen Gegenstimmen zu verarbeiten. Weitere Wiederholung: die schlußbildenden Takte 6 und 7 werden nicht nur in 14/15, sondern auch in 33/34 und 43/44 noch einmal herangezogen.

In Takt 45 ist das Stück eigentlich zuende – nicht in Es-Dur, sondern in c-moll! Bach unterstreicht diese vorzeitige Rückkehr in die Haupttonart der Sonate dadurch, daß er noch vier Takte als Coda anhängt, die in einen Halbschluß, also in die Dominante G-Dur, mündet. Mit diesem “Doppelpunkteffekt” wird die Spannung auf den Beginn des 3.Satzes (Allegro; Typus 3) hin wirkungsvoll geschürt.

Zum ersten Male bei der Betrachtung der Triosonaten begegnen wir hier einem Satz, in dem, deutlich gegeneinander abgesetzt, zwei Themen eine Rolle spielen. Das achttaktige Thema 1

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wird nach Art einer Fuge bearbeitet. Das zweite Thema dagegen –

 

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musikalisch stark gegen das erste kontrastierend – wird nur in einfacher Imitation zwischen den Oberstimmen vorgestellt (Takte 58ff. und 110ff.). Im Gegensatz zur Sonate der Klassik erklingt das 2.Thema der barocken Sonate in der Ausgangstonart (also hier in c-moll) und formal separat. Im einzelnen ist der Satz wie folgt strukturiert:

Der erste Teil umfaßt die Takte 1 bis 58. Nach der Präsentation des ersten Themas in Sopran und Alt, und nach einem Zwischenspiel der Manualstimmen folgt markanter Themeneinsatz im Pedal. Was von hier an (Takt 23) bis Ende des Teils folgt, wird zum Schluß des Gesamtsatzes reprisenhaft wiederholt (s.u.). Das Thema ist nun noch einmal in hoher Lage im Sopran, und abschließend im Alt zu hören. Die ganze Zeit spielt in den Kontrapunkten der Oberstimmen folgende Wendung eine große Rolle:

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Sie stammt aus dem Thema selbst (s.o. Takte 6 und 7). An der Achtelbewegung beteiligt sich, auch im übrigen, der Baß kaum; er schreitet meist ruhiger einher.

Der zweite Teil ist in für Bachs Sonatensatztechnik typischer Manier gestaltet. Zunächst beherrschen das quecksilbrige zweite Thema und daraus hervorgehende Fortspinnungen, schließlich homophone, in die Durparallele führende Figurationen das Feld. Aber dann meldet sich – sehr hübsch vorbereitet durch themenkopfähnliche Baßschritte – doch wieder das erste Thema zu Wort, übrigens jetzt in Engführung in zweitaktigem Abstand! Direkt darauf führt ein Baßeinsatz mit dem ersten Thema (Takt 94) in eine zäsurbildende f-moll-Kadenz.

Der dritte Teil beginnt dann wie der zweite: das zweite Thema hat seinen zweiten Auftritt. Was wir hören, ist – nach f-moll transponiert und mit vertauschten Oberstimmen – mit dem Beginn des zweiten Teiles identisch (Takte 102/103-129 58/59-85). Auch was dann folgt, scheint nichts Neues zu sein. Doch die Engführung des ersten Themas steht diesmal in eintaktigem Abstand! Der anschließende Baßeinsatz entspricht demjenigen in Takt 94, er führt aber nicht wieder nach schon acht Takten zum Schluß, sondern in großartiger Steigerung und Ausweitung in die schon erwähnte “Reprise” mit Wiederholung der Takte 23-58 – wie stets in neuer Beleuchtung durch Austausch der Oberstimmen. (In keimhafter, einfachster Anlage begegneten wir einer solchen “Teilreprise” schon im ersten Satz der Es-Dur-Sonate).

Die übersichtlich dreiteilige Form mit ihrer meisterhaften, unschematisch-organischen Reprisenlösung und Rahmenbildung, die Plastik und Kontrastkraft des Themenpaares, dessen erstes obendrein durch zweifache Möglichkeit der Engführung kontrapunktisch virtuos konzipiert ist, das alles ergibt ein Stück Musik, das zum Schönsten und Charaktervollsten innerhalb dieses Zyklus zählt.

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by-sa

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