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Entstehungszeit: Leipzig

“Das G-Dur” – so wird BWV 541 im Sprachgebrauch der Organisten allgemein heraushebend genannt – ist eines der bekanntesten und meistgespielten Bachschen Orgelwerke überhaupt. Aus gutem Grund natürlich: der fröhliche, mitreißende Überschwang des Präludiums und der heitere Ernst der musikalisch vielschichtigen Fuge nehmen jeden Hörer sogleich für sich ein. Darüber hinaus überzeugt die geschmeidige, zugleich unnachahmlich souveräne, ungezwungene Faktur des Ganzen, die das Werk den Leipziger Jahren, der Zeit vollkommener Meisterschaft Bachs zuweist.

Die musikwissenschaftliche Quellenforschung hat für das Werk folgende Entwicklungsstadien hochwahrscheinlich gemacht: Aus der Auswertung zahlreicher Abschriften läßt sich erschließen, daß Bachs (nicht erhaltene) Erstniederschrift wohl in den allerersten Leipziger Jahren entstanden ist. Um einiges danach nahm er eine Reihe von Verbesserungen vor und fügte zeitweise zwischen Präludium und Fuge den Triosatz BWV 528/3 in e-moll ein (vgl. das zur Entstehungsgeschichte der Triosonaten BWV 525-530, sowie das zu Präludium und Fuge C-Dur BWV 545 Gesagte!). Nicht vor 1733, vielleicht auch erst in den 1740er Jahren, wie es heißt, schritt er dann mit weiteren Änderungen und Korrekturen zur Endredaktion, wobei der Triosatz keine Aufnahme mehr fand. Diese Endfassung ist uns autograph erhalten; BWV 541 ist somit eines der wenigen freien Orgelwerke Bachs, die uns in authentischer Version vorliegen.

Das Präludium (mit der Tempoangabe “Vivace”) setzt tokkatenartig mit einem strahlend fröhlichen, den gesamten Tonraum vom hohen g′′ bis zum tiefen D ausgelassen durcheilenden Manualsolo ein:

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In Takt 12 beginnt dann – die Solostimme hat in jubelndem Aufschwung wieder das hohe g′′ erreicht – festliches, vielstimmiges Musizieren. Unter den Motiven, aus denen Bach in kunstvoll-organischer Vermengung im folgenden schöpft, gewinnt (in der Regel dem Baß vorbehalten) eine carillonartige Figur thematischen Charakter:

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Sie erinnert an die Baßostinati der Orgelbüchleinbearbeitungen zu “In dir ist Freude” und “Heut triumphieret Gottes Sohn” (BWV 615 und 630), die auch im Dienst des Ausdrucks überschäumender Freude stehen! Daneben haben Treppenschrittskalen und Schaukelfiguren wie

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und

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sowie “händeklatschende” (im Baß auch “paukende”) Tonrepetitionen motivisch strukturierenden Anteil am Geschehen. Die Dichte des Satzes ist ganz unterschiedlich – mit entsprechender musikalischer Wirkung, entsprechendem emotionalem Pendelausschlag. Das fällt bei Bach, der ja sonst eher ausgewogen gleichmäßiger Stimmfülle zuneigt, besonders ins Ohr. Normalmaß scheint die Fünfstimmigkeit zu sein, daneben tritt aber an vielen Stellen geringstimmige Auflockerung, gelegentlicher Rückgriff auf die Einstimmigkeit des Beginns, andererseits wiederum satte Sechsstimmigkeit.

Die formale Gliederung des Präludiums ist von klarer Übersichtlichkeit, beim Hören ohne Schwierigkeit nachvollziehbar, aber doch von eigentümlicher, souveräner Individualität. Auf die schon erwähnte Manualeinleitung folgen zwei 18taktige Abschnitte: der erste (T. 12-29) führt, deutlich abkadenzierend, in die Dominanttonart D-Dur, der zweite (29-46) ebenso in deren Parallele h-moll. Die anschließende Partie (46-59) lenkt in die Grundtonart zurück. Auffällig dabei: das eingangs zitierte, bislang dem Baß zugewiesene “Carillonmotiv” taucht nun, leicht gekürzt, viermal hintereinander in der Oberstimme auf (53ff.), um sich dann für immer aus dem Staube zu machen – obgleich das Präludium noch 24 Takte weitergeht! Dieser letzte, die Grundtonart nun nicht mehr aufgebende Abschnitt (59-82), wirkt durch solchen Themenentzug wie ein großer Ausklang, eine Art “Großcoda”. Er stellt, fast auf den Takt genau, ein Drittel des ganzen Präludiums, wenn man die einleitende Manualpartie einmal außer Acht läßt. Andererseits ist er ein genau doppelt so langer Kontrapost zu eben dieser einleitenden Manualpartie! Zwar verzichtet, wie gesagt, der Schlußabschnitt auf den Hauptgedanken; trotzdem verbinden ihn (über andere weiterhin verwendete Motivfloskeln hinaus) spezielle Bezüge mit dem Vorangegangenen: er wird von Bach auf dieselbe Weise zu Ende gebracht wie der erste mehrstimmige Abschnitt (Takte 75-79; die Takte 79-82 sind nur noch eine kleine Normalcoda). Von dorther bekannt, hören wir auch hier wieder die effektvoll kecken Achtelakkordeinwürfe der rechten Hand, dazu gleiche Baßführung und gleichen Tenor! – Was hier auf dem Papier wie formales Kalkül, abzählende Berechnung wirken mag, erlebt der Hörer ganz anders, richtiger: als formale Eingebung, in der sich genialer Instinkt und mit enormem Fleiß erworbene Erfahrung zu organischer, bezwingend natürlicher Vollkommenheit vereinen!

Von gleicher Organik ist die vierstimmige Fuge. Ihr Thema hatte Bach (in moll und zu Beginn um zwei Achtel kürzer) schon einmal im Eingangschor seiner Weimarer Kantate BWV 21 “Ich hatte viel Bekümmernis” bearbeitet:

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Die markanten Tonrepetitionen erleichtern dem Hörer das Wiedererkennen des Themas im vielstimmigen Kontext; kontrapunktisch bieten sie dem Komponisten besonderen Spielraum zur Erfindung biegsam melodiöser Gegenstimmen. Das nutzt Bach natürlich meisterhaft, und so ist der ganze erste Großabschnitt der Fuge (T.1-38; er führt in die parallele Molltonart) musikalisch neben der plastischen Beredsamkeit des Themas vom sanften, kantablen Linienspiel der Sechzehntel- und Achtelkontrapunkte bestimmt. Die Motive für Fortspinnungen und Zwischenspiele entnimmt Bach dem Thema selbst, z.B.:

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sowie

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und

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Nach dem Erlebnis der überschäumenden Quellfrische des Präludiums glaubt man sich in diesem ersten Teil der Fuge, um im Bilde zu bleiben, weiter unten im Tal, wo das Wasser mit mehr Ruhe dahinfließt.

Noch entspannter geht es im zweiten Großabschnitt (38-63) zu. Das Pedal verstummt, im Manual entwickelt sich, quasi improvisatorisch-kadenzierend ein längeres, alle thematischen Bezüge aufgebendes Zwischenspiel. Es strebt von e-moll in die Dominanttonart D-Dur, wo sich das Pedal nun wieder mit dem Thema zu Wort meldet. Der Satz wird, durch unverzügliches Aussparen des Soprans, weiterhin dreistimmig gehalten (vgl. ganz ähnliche Handhabung Bachs in der Passacagliafuge BWV 582!). Allmählich gewinnt auch der Gesamtsatz wieder motivisch-thematisches Profil und schließlich setzt das Thema selbst in dramatisierend hoher Lage im Sopran ein (a-moll!).

An dieser Stelle kadenziert Bach zäsurbildend ab, der letzte Teil (63-83) beginnt zweistimmig mit Baß und Tenor. Schon gegen Ende des vorigen Abschnitts war die eher freundliche Grundstimmung des Anfangs unmerklich gespannter Unruhe gewichen, befördert durch das massierte Auftauchen der Kontrapunktfloskel (z.B. in Takt 60ff. Pedalbaß):

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die bis dahin nur en passant eine Rolle gespielt hatte (Takte 27 und 37). Noch mehr trumpft sie zu Beginn dieses letzten Abschnitts auf: energisch drängt sie im Baß in die Höhe, während sich darüber der Manualsatz anhand eines Motivs aus dem Thema imitatorisch aufbaut. Die Harmonik verkompliziert sich zusehends, wir geraten – durch einen entsprechenden Themeneinsatz im Pedal – in den g-moll-Bereich (!). Eine durch das Geflecht sich verdichtender Akkordverbindungen abwärtsdrängende Sechzehntellinie strebt danach, die Spannung abzubauen, verfängt sich aber unter einer Fermate in dem dissonanten Dominantakkord D-cis-e-g-b. Zwingender konnte Bach musikalisch nicht vorbereiten auf das, was nun folgt: die wie eine innere Bewältigung des bisher Geschehenen wirkende Engführung des Themas in der nach knappster Überleitung glücklich zurückgewonnenen Grundtonart (zweimal: Takt 72 zwischen Baß und Alt, Takt 75/76 zwischen Sopran und Alt). In der Coda (79-83) tritt, unter strahlend ausgehaltenem hohen g′′ des Soprans, das Thema als neue, fünfte Stimme, noch einmal in der Subdominante auf, die Fuge plagal bekräftigend und beschließend.

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by-sa

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