Entstehungszeit: ?
Einen größeren Kontrast als zwischen dem eben verklungenen e-moll-Duett mit seiner offenkundigen Crucifixus- und Passionssymbolik einerseits, und dem hellen, österlichen Beginn des F-Dur-Duetts andererseits kann man sich kaum denken, auch wenn sich letzteres in seinem großen moll-Mittelteil stimmungsmäßig noch einmal auf das erste Duett zurückbezieht. Aber nicht nur die musikalische Ausstrahlung, auch die Machart der Stücke kontrastiert wirkungsvoll zueinander. Wir kommen auf diese Gegenüberstellung und damit auf Möglichkeiten der Deutung und des Verständnisses der beiden ersten Duette weiter unten zurück.
Es zeigt sich schnell, daß das F-Dur-Duett einem streng symmetrischen Bauplan folgt, in dem sich wie in einem Prisma, das Dreiklangthema
dreifach bricht und spiegelt – und nicht nur dieses: auch die Kategorien Dur und moll, Oberstimme – Unterstimme, Imitation – Kanon, Formabschnitt gegen Formabschnitt werden in komplementär reflektierende Beziehung zueinander gebracht. Die bekannte und von Bach selbst ja so oft und meisterlich respektierte Kunstmaxime, daß Symmetrie allein Ästhetik des Primitiven ist: hier setzt er sie aus besonderen, symboltheologischen Gründen außer Kraft (s. u.). Betrachten wir das Stück im einzelnen:
Das Duett besteht aus drei Hauptteilen, wobei der dritte eine wörtliche Wiederholung des ersten ist (A-B-A; 37+75+37 Takte).
Teil A gliedert sich in fünf Abschnitte (9+7+5+7+9); man beachte die symmetrische Formung und die Verwendung der symbolisch bedeutsamen Zahlen 5, 7 und 9 (s. u.). Die Abschnitte sind abwechselnd imitatorisch und – stets unter Verwendung des Themas – kanonisch geformt. Abschnitt 1 (Takt 1-9) bringt das Thema nacheinander in fugenmäßiger Darbietung (Oberstimme beginnt, Unterstimme beantwortet tonal). Abschnitt 2 lebt von der kanonischen Verschränkung folgender Spielfigur (in Takt 6 ist im Kontrapunkt der Oberstimme das Kanonmotiv bereits vorgebildet):
In ihr wird die Dreiklangsmotivik des Themas aufgegriffen (Takte 9-16). Es folgt das Thema in der Oberstimme (Comes-Form), kontrapunktiert von dem Kanonmotiv und freieren Bildungen (17-21). Anschließend wieder der kleine Spielfigurenkanon, diesmal aber steigernd in Gegenbewegung (22-28). Zuletzt das Thema in der Unterstimme, abermals von den Dreiklangsbrechungen der Kanonfigur und freieren Formulierungen kontrapunktiert (29-37). Insgesamt ergibt sich eine kleine Fuge in einfachster Form: Thema + Themabeantwortung / Zwischenspiel / Thema (Comes) / Zwischenspiel / Thema (Dux). Ebenso unkompliziert ist der harmonische Zusammenhang: der Tonraum wird von den drei Grundfunktionen Tonika (F-), Dominante (C-) und Subdominante (B-Dur) bestimmt. Dabei fällt die starke Betonung des subdominantischen Bereichs deutlich ins Auge (verhältnismäßig häufige Verwendung des in B-Dur leitereigenen Tones es, während das leitereigene h von C-Dur nur anfangs gestreift wird).
Als Gesamteindruck von Teil A nimmt der Hörer mit: eine helle, fröhliche Dreiklangsmusik in Dur auf formal und tonartlich einfacher Grundlage.
Ganz anders Teil B: schon die ersten Töne bewirken einen völligen Stimmungsumschwung. Nach moll versetzt, erscheint das Thema nun transformiert zu einem “mühselig” sich emporringenden Linienzug, dessen Expressivität von dem übermäßigen Intervall zu Beginn (“x”) nachdrücklich unterstrichen wird:
neu:
Aus diesem Ansatz entwickelt sich ein Abschnitt aus 2x4 Takten, in dem die Unterstimme, in der Unterquart einsetzend, streng kanonisch imitiert (38-45). Im weiteren Verlauf unserer Betrachtung nennen wir diesen Abschnitt “A”.
Der nächste Abschnitt ist ebenfalls als Kanon geformt. Die von Bach hier verwendete Themenvariante ist leichter erkennbar als die vorige:
Unter Weglassung des letzten Taktes des Themas spinnt sie dessen zweiten und dritten Takt verdoppelnd aus. Wir nennen diesen Abschnitt “B” (46-52).
Die weitere Entwicklung bringt nochmals a und b, aber in anderer Tonart und mit vertauschten Stimmen, und zwar so, daß jetzt jeweils die Unterstimme beginnt (53-60 und 61-68). Damit ist der erste Teil von B zuende. Er durchschritt die nächstliegenden, parallelen Molltonarten von F-Dur, also d- und a-moll, und umfasste insgesamt 31 Takte.
Nur 13 Takte (13 Spiegelung von 31) dauert hierauf der Mittelteil von B, der gleichzeitig das bedeutsame Zentrum des ganzen Stückes bildet (69-81). Hier begegnen wir dem Thema in seiner ursprünglichen Gestalt (69ff. Unterstimme), sodann – im absoluten Mittelpunkt des ganzen Duetts – in der Umkehrung in moll:
Im Kontrapunkt taucht dazu die uns schon aus dem ersten Duett vertraute “Leidens-Chromatik” auf; sie trübt insbesondere die originale Durfassung des Themas (69ff.) absichtsvoll ein. Dieser Abschnitt C beginnt also in F-Dur und endet in f-moll, d.h. die Haupttonart selbst wird nun von der moll-Tendenz erfasst!
Wieder in der Reihung A - B - A - B erklingt anschließend eine Wiederholung des ersten Teiles von B, jedoch mit vertauschten Stimmen und in anderen Tonarten: Bach bleibt bei dem eben in C erreichten f-moll und dem dazugehörigen c-moll, welches sich aber zum Schluß zu C-Dur aufhellt und damit den dominantischen Rückweg in den Hauptteil A ermöglicht – dieser erklingt ja, wie bereits gesagt, als Dacapo.
Als Gesamteindruck von Teil B nimmt der Hörer mit: Das Thema erscheint in dreierlei Gestalt (A-Variante, B-Variante und original, letzteres in zwei Versionen); konsequente Kanontechnik (außer in C) und lineare Fortschreitungen zeitigen starke Verdichtung des Satzes;übermäßige Intervallschritte und Vorherrschaft der verschiedenen Mollbereiche erzeugen in Verbindung mit steter Aufwärtstendenz der Stimmführung in A und B eine Atmosphäre leidvollen Sich-Mühens. Als Bauplan des gesamten Duetts ergibt sich (i = Imitation; k = Kanon; T = Takte; S = Struktur):
Möglichkeiten des Verständnisses der Duette I und II
In allererster Linie spricht Bachs Musik sich selbst aus. Es geht um das Hör- und musikalisch Wahrnehmbare, wir erleben – um Eduard Hanslicks vielstrapazierte, treffende Definition anzubringen – “tönend bewegte Form”. Nicht als wie immer gearteter Selbstzweck, sondern – wie Bach selbst sagt – zur Ehre Gottes und zur “Recreation des Gemüths”. Besonders der ersten Zielsetzung wegen weist sie dann aber doch über sich hinaus, wird zur Zeichenträgerin. Generationen von Komponisten des Barockzeitalters (1600-1750) haben sich ja darum gemüht, die Musik zu einer solchen Zeichenträgerin zu machen. So entwickelte sich die musikalische Rhetorik mit ihren Figuren und der Affektenlehre, die Rationalität der Formgebung, die Bedeutsamkeit von Proportionen. Am Ende des Entwicklungsprozesses stehend, handhabt Bach diese musikalische Bild- und Symbolsprache mit einer alles Bisherige überbietenden, genialen Meisterschaft.
Insofern ist die Frage, was die Duette aussagen, worauf sie hinweisen, eine Frage, die auch verbal gestellt und verbal zu beantworten versucht werden darf. Mäßigung ist dabei geboten, mehr als berechtigte Vermutung unangebracht. Aus gutem Grund gehen namhafte und gewichtige Stimmen (Alfred Dürr, Christoph Wolff, Ulrich Meyer) auf Distanz, wenn Bachwerke auf zügellose Weise zahlensymbolisch ausgeschlachtet werden. Nur einfachste, noch wahrnehmbare Bezüge zu nachweislich symbolisch aufgefaßten Grundzahlen haben Anspruch auf Geltung. Analoges gilt für die Deutung der tonsprachlichen Diktion, die Einzelaffekte und den Gesamtaffekt eines Stückes. Eine unschätzbare Hilfe bei der Erarbeitung verläßlicher Grundlagen sind hier die Kantaten, Oratorien und Motetten Bachs, weil sie eindeutig verbalen Bezug aufweisen.
Dies vorausgeschickt, mag es statthaft sein, folgende Sicht der beiden Duette mitzunehmen, als mögliche Aussage zu akzeptieren:
Duett I: Baßführung und Grundzüge der Oberstimmengestaltung weisen nahe Verwandtschaft zum “Crucifixus” der h-moll-Messe auf. Die absteigende Chromatik des “passus duriusculus” steht stets als musikalischer Gestus für Entkräftung, Depression, Leid und Leiden. Das alles lenkt hier die Gedanken auf die Passion Jesu hin. Weiteres befestigt diesen Eindruck: die Wahl der Tonart e-moll, in der ja auch das “Crucifixus” und vieles Ähnliche steht, der stockend stürzende und seufzende Gang des zweiten Themenabschnitts, das spannungsvolle Melisma des dritten Abschnitts, schließlich die naturhaft unvollkommene Proportionierung (drei Teile, dessen letzter “zu kurz” ist): Der Dreieinige geht in die Unvollkommenheit der Menschennatur ein. Der Zweiunddreißigstellauf zu Beginn läßt dabei an die Worte “…sein’ Weg er zu laufen eilt” aus Strophe 2 von “Nun komm, der Heiden Heiland” denken, in der von Jesu Erdenweg die Rede ist.
Duett II: Im vorangegangenen Duett sahen wir die unvollkommene, leidende, auch von Christus im Leiden durchschrittene Welt des Diesseits abgebildet. Ihr stellt das F-Dur-Duett die österlich vollkommene Welt des Dreieinigen entgegen: aus der Herrlichkeit kommend, geht er überwindend ins Diesseits ein und kehrt in dieselbe Herrlichkeit zurück. Dazu folgende Beobachtungen:
Zur Trinitätssymbolik: Die vollkommen symmetrische dreiteilige Form, bei der die Flankenteile (A + A dacapo) in gleichgewichtigem Verhältnis zum Mittelteil B stehen (2 mal A = 37+37 = 74 Takte, B 75 Takte. Daß der Mittelteil um einen Takt länger ist als die Rahmung, legitimiert zumindest zum Nachdenken über eine evtl. Bedeutung, auch wenn wir hier, um des Guten nicht zuviel zu tun, keine Interpretation anbieten wollen.). Sodann fällt die konsequent dreiklanggesättigte Struktur von Teil A auf. Nicht nur das Thema beginnt ja mit einer Dreiklangsfanfare, auch die Kanons der Zwischenspiele bestehen aus Dreiklangbrechungen. Ein Blick auf die Proportionen von A: 9 + 7 + 5 + 7 + 9 Takte in 5 Abschnitten. Die rahmende 9 enthält dreimal die Drei. Die Fünf und die Sieben stehen entsprechend dem traditionellen Verständnis für Christus und den Heiligen Geist. Daß die Fünf im Zentrum der fünf Abschnitte steht, betont den Christusaspekt dieser Trinitätssymbolik. Auch der Mittelteil B ist auf die Zahl Drei bezogen. Das Thema erscheint hier in dreierlei Gestalt, und der ganze Teil ist symmetrisch dreigliedrig geformt.
Zur Christus-, Diesseits- und Passionssymbolik des Mittelteils: Auf seine in mühseligen Schritten aufwärtsstrebende Linearität, auf die expressiven übermäßigen Intervalle, auf die konsequent mollbezogene Harmonik, auf das Anklingen des “passus duriusculus” im Mittelabschnitt war bereits hingewiesen worden. Auch die strikte Kanontechnik der Abschnitte A und B ist in diesem Zusammenhang zu sehen: wo immer in Bachs Werken vom Gesetz der zehn Gebote und von Christus als dem vollkommenen Erfüller des Gesetzes die Rede ist, begegnen wir auch kanonischen Bildungen. In anderen Bildern spricht der mittlere Abschnitt c. Hier stellt Bach das ursprüngliche, nicht variierte Thema aus A seiner Inversion (Umkehrung in moll) gegenüber:
Der dreieinige Gott kommt demütig als Mensch auf die Erde hinab. Die inverso-Form zeigt uns Christus als Menschen Jesus. Dies ist die zentrale Aussage des Stückes; die nur hier so verwendete Gestalt des Themas steht punktgenau im Zentrum des Duetts. Kehren wir noch einmal zu den Kanons der Abschnitte A und B zurück: in den B-Abschnitten begegneten wir dem Thema fast unverändert. Seine kanonische Verschränkung ist immer so angelegt, daß eine Stimme das Thema in Dur, die andere in moll bringt. Damit wird die zweifache Natur Christi dargestellt: Gott und Mensch. Die Kanons der A-Abschnitte sind dagegen in beiden Stimmen ganz gleich. Da hier das Thema nur verschleiert, musikalisch als mühselig strebende Linie erscheint, ist vielleicht die Vermutung erlaubt, in den A-Abschnitten ein Abbild der sich um Gesetzeserfüllung und Nachfolge mühenden Menschheit zu sehen, der sich in den B-Abschnitten Christus mitleidend und erfüllend zur Seite stellt. Wie anders erlebt der Hörer nach diesem tiefsinnigen und schwierig strukturierten Mittelteil die Musik des A-Teiles in seiner Wiederholung. Sie ist eine der vertiefendsten, sinnvollsten in Bachs Schaffen, fernab von jedem Formschematismus, scheinbar einfach, aber eben nicht simpel!
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- Zuletzt aktualisiert: 24. September 2015
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