Entstehungszeit: Weimar
Zum Kanon der monumentalen, klassischen Standardwerke zählend, profiliert sich die sogenannte “dorische” Tokkata und Fuge in ganz eigener Manier: ein auf Übersichtlichkeit bedachtes Kontingent an kompositorischen Mitteln, dazu eine einfache, quasi “objektivistisch” aufs Allgemeingut der Epoche beschränkte Tonsprache fließen, ökonomisch und prägnant ausgewertet, in eine dann doch so lebendige und originelle Gesamtgestaltung ein, daß als Reaktion allein der bewundernde Ausruf “Perfekt!” in Frage kommt, mag auch die Bewerkstelligung solcher Perfektion im einzelnen immer ein staunenswertes Rätsel bleiben.
Aus dem Quellenmaterial, wie es uns noch vorliegt (keine Autographe, viele sehr verschiedenartige Abschriften), läßt sich erschließen, daß der in die Weimarer Zeit zu datierenden Erstfassung zwei weitere Stadien gefolgt sind; manches deutet auch darauf hin, daß Tokkata und Fuge zunächst oder zeitweise unabhängig voneinander dastanden. Dieser vermutlich sich bis in die Leipziger Zeit hinziehende Abrundungsprozeß, ebenso die Tatsache, daß Bach noch im September 1732 anläßlich einer Orgelabnahme in Kassel auf das Werk zurückgriff, erlauben die Annahme, daß BWV 538 im Schülerkreise wie bei Bach selbst als exemplarisches Stück, als Muster galt, das immer wieder herangezogen und an dem weitergefeilt wurde.
Das Epitheton “dorisch” erklärt sich daraus, daß das Werk, obgleich in modernem d-moll stehend, nach alter, kirchentonartlicher Auffassung in d-dorisch (also ohne generelle b-Vorzeichnung) aufgeschrieben ist. Es fällt auf, daß diese Notation auch bei den Revisionen des Stückes stehenblieb. Viele andere freie Orgelwerke, die Bach in jüngeren Jahren gemäß der damals noch gebräuchlichen Tonartenauffassung notiert hatte, wurden von ihm später in modernes Moll umgeschrieben (vgl. etwa Früh- und Endfassung von BWV 535)
Die Tokkata ist zweimanualig konzipiert. Diese Zweimanualigkeit ist derart konstitutiv, daß man sie selbst als ein “Thema” des Stückes betrachten darf. Bach hat deshalb die Manualverteilung (Oberwerk-Positiv) durchgehend angegeben – einer der ganz wenigen Fälle (zugleich aber auch ein Sonderfall!), zu dem wir darüber etwas Authentisches erfahren (vgl. auch BWV 552 und 592-596). Herkömmliche Elemente des Tokkatenstils lassen sich hier kaum ausmachen: Ohne daß man von der Tokkata nun einfach als Konzertsatz sprechen dürfte, ist sie doch kräftig vom konzertierenden Musizierstil geprägt (Diktion, Streben nach geschlossener Form mit einander entsprechenden Partien). Seiner uneindeutigen Gattungszugehörigkeit halber ist das Stück in einigen Quellen auch mit “Präludium” tituliert. Dennoch: das motorisch bestimmte Thema, besser gesagt das Keimmotiv, mit dem das Stück anhebt, hat etwas unbezweifelbar Tokkatenhaftes an sich:
Aus ihm entwickelt Bach fast alles (!) Weitere, wobei Motivteil “a” nicht ausschließlich, aber vorzugsweise den Oberwerk-Partien, die den formalen Vorrang haben, Motivteil “b” den Positiv-Partien zugewiesen ist. Im übrigen kommt Bach mit generalbaßmäßigen Akkordbegleitungen in den Rhythmen
sowie einigen Stütztönen und (in den Episoden 37-45/ 67-77) absteigenden Achtelskalen des Pedals aus! Dafür herrscht hinsichtlich der Stimmenzahl große Vielfalt: sie reicht von (kanonischer) Zweistimmigkeit bis zur vollen Sechsstimmigkeit.
Weitere thematische Grundlage der Komposition ist, wie gesagt, die Zweimanualigkeit. Auch sie wird – im Sinne eines individuellen Einzelfalles – tokkatenhaft, nicht konzertant ausgewertet, so sehr das zunächst auch scheinen mag. Denn es stehen sich hier nicht Concertino und Tutti, sondern zwei dynamisch gleichwertige, nur farblich kontrastierende Dialogpartner gegenüber, was auch formal seinen Niederschlag findet. Die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten zweimanualigen Spiels schöpft Bach aufs einfallsreichste aus: Gegenüberstellung größerer Abschnitte (1-13; 13-20; 20-25; Schlußpartie), kleine Gruppe gegen kleine Gruppe, z.T. ohne (37-42), z.T. mit Pedal (42-45; analog 67-73/73-77), triomäßiges Spiel, rasante Wechsel nur der rechten Hand bei gleichbleibender Linker (31ff.).
Das Stück widersetzt sich einer schematisierend zergliedernden Analyse. Zu sehr geht das eine aus dem anderen hervor, geht das eine in das andere über! Natürlich schafft Bach Zusammenhalt durch transponierte Wiederholungen, doch haben sie keine spezifische architektonische Funktion. Eindeutig gliedernden, ordnenden Charakter haben allerdings die einander entsprechenden Partien 37-47 und 66-78 mit ihrem teilweise eigenen Gedankengut (siehe auch Takthinweise oben):
Sie wirken – bei beibehaltener Zweimanualigkeit – wie Seitensätze. Die tonartliche Gliederung ist klar und folgt dem normalen Schema: 1-25 d-moll, dann Molldominante a-moll, in 46 wird g-moll erreicht, dann – in schöner Wirkung – 58 B-Dur. Per Halbschluß geht es in die Dominante A-Dur, ab 67 bis zum Ende dann wieder die Grundtonart.
Dem kraftvoll motorischen Impetus der – paradox! – so einheitlichen und so vielgestaltigen Tokkata folgt als ruhigerer, monumentaler Ausblick die großartige Fuge, hinter deren konzentriertem, meditativem Ernst, hinter deren scheinbarer Gleichförmigkeit und Langatmigkeit (222 Takte!) bei näherem Hinhören spannungsvolles, entwicklungsträchtiges Leben glüht. Die Konzentration des am “stile antico” (siehe BWV 588/89) orientierten Satzes ist erstaunlich. Das Thema
wird im folgenden abwechselnd oder auch gleichzeitig von zwei beibehaltenen Kontrapunkten begleitet. Der erste zitiert an der mit “x” bezeichneten Stelle das Thema der Tokkata (Motivteil a) in der Umkehrung:
Der zweite lautet:
Aus Thema und Kontrapunkt 1 ist ein weiteres Motiv abgeleitet, mit dem Bach fast durchweg seine Zwischenspiele gestaltet (meist in kanonischer Verschränkung):
In ihrer Diktion stehen die übrigen, freien Kontrapunkte dem eben Mitgeteilten sehr nahe. Nach zwei Vorahnungen in den Takten 117 (Alt) und 119 (Sopran) kommt insbesondere in den Takten 152ff. und nochmals 194ff. (dort in der Verkleinerung) expressiv steigernde Chromatik ins Spiel (vier auf-, dann auch abwärtssteigende Halbtöne). Das hier aufgezählte kontrapunktische Material hat im Verlauf des Stückes verschiedenes Gewicht. Die Kontrapunkte 1 und 2 (insbesondere 2) tauchen mit der Zeit immer seltener auf; auch ihre Konsistenz ist verschieden: manchmal wird aus ihnen nur zitiert, manchmal werden sie auf verschiedene Stimmen verteilt (gestückelte Wiedergabe). Das Zwischenspielmotiv dagegen gewinnt zunehmend an Bedeutung, behält schließlich sogar in der satztechnisch brillanten Stretta (211) das letzte Wort. Dort hören wir es in dreifacher Engführung; der Sopran verdoppelt dazu in Sexten den Alt! Die Chromatik wird, wie schon erwähnt, erst in der zweiten Fugenhälfte steigernd eingeführt. Von oft wunderbarer Schönheit sind die freien Kontrapunkte, die die einzelnen Situationen teils lyrisch, teils dramatisch prägen. Stellvertretend seien hier die herrliche Tenorführung in 101ff., das Pedal ab 174 mit dem langen, formal wirkungsvoll gesetzten Triller und die rat- und rastlosen Linien des letzten Manualzwischenspiels genannt.
Aufmerksam gemacht sei schließlich auf die kunstvolle und oft kühne Vorhaltsharmonik, die als Ergebnis logisch zwingender Stimmführung auch die schärfsten Dissonanzakkumulationen nicht scheut. Bestechend, wie bei so vielen “strengen” Bachfugen, die unnachahmliche, lebensvolle Mischung aus konzentrierter Gesetzmäßigkeit und überraschender Freizügigkeit, in Detail wie Gesamtgestaltung. Dieser nicht nur durch die gemeinsame Tonart verwandte Vorläufer der “Kunst der Fuge” weist Bach exemplarisch als Gestalter, nicht als Sklaven kontrapunktischer Eigengesetzlichkeit, als Künstler, nicht als Akademiker aus.
In der nachfolgenden Tabelle findet sich eine graphische Umsetzung der Fuge. Die Tabelle möge die eindrucksvolle thematisch-motivisch gesättigte Konstruktion abschließend verdeutlichen. Man beachte die Engführung des Themas in den Takten 101ff., 130ff., 167ff. und 203ff. In den akkordisch geführten Schlußtakten setzt Bach über den Sopran drei weitere Stimmen, die die Fuge in machtvoller Siebenstimmigkeit zuendeführen (in der Graphik ebenso wenig berücksichtigt wie die kleinere Freizügigkeit der Stimmführung und -verteilung im letzten Manualzwischenspiel).
Zeichenerklärung:
1 | Sopran | 2 | Alt | 3 | Tenor | 4 | Baß (Pedal) |
x | Thema | = | Kontrapunkt 1 | + | Kontrapunkt 2 | ||
- | freier Kontrapunkt | : | Zwischenspielmotiv | c | Chromatik |
jedes Zeichen 1 Takt, Takte in 10er-Gruppen
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- Zuletzt aktualisiert: 17. Mai 2014
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