Entstehungszeit: Weimar
Die historische Rückschau stellt als verabsolutierendes Faktum hin, daß die Komponisten des 17./18.Jahrhunderts völlig pragmatisch und zweckgebunden auf die jeweils aktuelle stilistische Gegenwart ausgerichtete Musiker gewesen seien und so gut wie keine Verbindung zur Musik der vor ihrer Zeit liegenden Epochen gehabt hätten. Im Vergleich zu unserer Zeit mit ihrem auf musikalischem Gebiet teilweise extrem ausgeprägten Historismus mag dies zutreffen; aber auch in Blick auf die damalige Zeit ist die These in dieser Vereinfachung unzulässig – besonders, was Bach betrifft. Schon aus seiner besonderen familiären Situation heraus – als Sproß eines generationenlang weitverzweigten, kompositorisch produktiven Musikergeschlechtes, mit dessen Werken er nachweislich gut vertraut war – mag ihm die Dimension des Geschichtlichen mehr als anderen Zeitgenossen zugewachsen sein. Aber auch darüber hinaus ist bekannt, daß Bach Umgang mit der Musik des frühen und mittleren 17.Jahrhunderts hatte, sie spielte, studierte und sich von ihr anregen ließ. Es ist bezeugt, daß er die Werke Frescobaldis und Frobergers kannte und schätzte und sogar noch das von Bodenschatz (1576-1636) herausgegebene, teilweise auf Calvisius (1556-1615) zurückgehende “Florilegium Portense” (Motettensammlung) in der Praxis verwendete.
Eine ganz direkte, kompositorisch und praktisch lebendig gebliebene Verbindungslinie in die Vergangenheit hatte Bach mit allen musikalischen Zeitgenossen gemeinsam: den sogenannten “alten Stil”, der aus den zur Norm gewordenen, im Kontrapunktunterricht von Generation zu Generation weitergegebenen (allmählich allerdings auch modifizierten) Techniken des Satzes, der Themen- und Linienbildung aus der Zeit der klassischen Vokalpolyphonie (Palestrina, Lasso, Ende 16.Jhdt.) hervorgegangen war. Bach hat diese schon an der Notation leicht erkennbare Setzweise (traditionelle Bevorzugung von übersichtlich langen Notenwerten – was nichts über die Tempi aussagt) in seinem vokalen und instrumentalen Gesamtschaffen ein Leben lang gepflegt, teils in eher akademisch-konservativer, teils in bedeutend weiterentwickelter, eigenständiger Manier.
Das Allabreve (es handelt sich dabei um eine Fuge) ist in schulmäßiger, kaum individuell geprägter Weise an diesem alten Vokalstil orientiert. Vom Notenbild her gesehen, scheint die Canzona nach dem gleichen Muster gearbeitet zu sein, doch erweist nähere Betrachtung, daß wir es hier mit einer konsequenten Stilkopie zu tun haben. Als direktes Vorbild ist die Gradualkanzon aus Frescobaldis Marienmesse ermittelt worden. Erst bei der Schlußkadenz des ersten Teils und den Sequenzen im 12.Takt vor Ende “unterlaufen” Bach zeitgenössisch-barocke Wendungen! Einige Einzelheiten zu beiden Stücken:
1. Canzona / BWV 588
Verallgemeinernd gesagt und von den Ursprüngen und Vorformen abgesehen, handelt es sich bei der Canzona um einen instrumentalen Formtypus aus der ersten Zeit des 17. Jahrhunderts, in dem ein Thema imitatorisch-fugenhaft zunächst in geradem (4/2-)Takt, sodann – mehr oder weniger stark umgeformt – im ungeraden (3/2-)Takt durchgeführt wird. Eine abschließende Rückkehr in den geraden Takt ist möglich, liegt bei der Bachschen Canzona aber nicht vor.
Das Thema der Canzona lautet in seiner ersten Form (zurTaktvorzeichnung der Canzona siehe Abschnitt 2)
Schon beim zweiten Themeneinsatz gesellt sich – ganz nach Art der italienischen Vorbilder (und nicht “echt bachisch”, wie Keller behauptet!) ein chromatischer, im weiteren Verlauf des Stückes beibehaltener Kontrapunkt dazu:
Für die Durchführung im Dreiertakt wird das Thema reizvoll umgewandelt:
Der chromatische Kontrapunkt ist schon beim ersten Einsatz wieder mit dabei:
Die “Canzona” wird oft als “Studienarbeit” bezeichnet, weil Bach sich in Form, Setzweise und Diktion an die alten Muster hält. Damit kommt etwas Abwertendes in die Betrachtung des Stückes hinein, und es sei deshalb betont, daß die Canzona – auch ohne eine Emanation Bachschen Personalstils zu sein – ein reizvoll lebendiges und plastisches Stück Musik von hoher Qualität ist, dem es zukäme, nicht nur als Studier- und Übungsstück Bachs wie heutiger Organisten angesehen zu werden. Interessant ist auch allemal, wie weit Bach gerade in diesem Stück Tonfall und Machart der alten Kompositionsweise zu treffen verstand.
2. Allabreve
Der Titel bezieht sich auf die Taktnotierung und Zählweise dieses Satzstils. Der alte 4/2-Takt des klassisch-vokalpolyphonen Stilmusters war später im Interesse größerer Übersichtlichkeit in zwei 2/2-Takte unterteilt worden. Es ergab sich das Notenbild eines 4/4-Taktes, der aber “alla breve”, also nur mit zwei Halbeschlägen gezählt wurde und dadurch eine besondere metrisch-rhythmische Qualität gewann. Wie eingangs gesagt, orientiert sich das Allabreve in Thematik und Linienführung mehr am Vokalen und ist als Musiziertypus zeitgenössischer als die Canzona (man denke an entsprechende Sätze in den Concerti Grossi der Corellizeit und Händels).
Das Thema – dem in der Regel ein beibehaltener Kontrapunkt hinzugefügt ist – lautet:
Ab Takt 43 erscheint es auch – in unterschiedlicher Verzahnung – in Engführungen. Die mit fast 200 Takten sehr lang ausgefallene Komposition erfährt durch das abschnittsweise Aussetzen der Pedalstimme, die jeweils zu tonartlich-funktionsharmonischen Angelpunkten führt (D-Fis-h-e-A-D), ihre Gliederung, so unablässig die Musik auch dahinzuströmen scheint. Trotz der im Vergleich zur Canzona mehr akademisch-studienhaften Machart ist an zahllosen Details die versierte “Findigkeit” des meisterlichen Kontrapunktikers Bachs ablesbar. Als Registrierung ist “Pro Organo Pleno” verlangt; daß Bach sich solche Stücke im “alten Stil” stets so registriert dachte, geht aus der gleichlautenden Vorschrift für die in ihrem ersten Teil ebenso komponierte Es-Dur-Fuge (BWV 552) hervor.
Weitere Orgelwerke, in denen Bach die historische Tonsprache von Canzona und Allabreve, bald in mehr vokaler, bald mehr instrumentaler Ausprägung aufgreift, sind die d-moll-Fuge aus BWV 538, die F-Dur-Fuge aus BWV 540 und – in genial individualisierender Weiterentwicklung – der fünfstimmige Mittelteil der G-Dur-Fantasie (Pièce d’Orgue) BWV 572, ebenso die Fugen F- und Fis-Dur (BWV Anh. 42 u. 97, NBA IV/11). Obgleich auch von anderen Einflüssen und Elementen geprägt, zählen auch die Fugen c-moll (BWV 546, Eingangsteil), f-moll (BWV 534), schließlich der dritte Satz der c-moll-Triosonate BWV 526 (1. Thema ff.) in diesen Bereich.
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- Zuletzt aktualisiert: 17. September 2015
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