Entstehungszeit: Arnstadt (?); Mühlhausen (?); Weimar (?)
Von der Warte späterer musikgeschichtlicher Entwicklung, insbesondere der des 19. Jahrhunderts und seiner Ausläufer, zählte die d-moll-Tokkata zu denjenigen Schöpfungen Bachs, die angeblich “zeitlos”, “überzeitlich”, frei von der vermeintlich zopfigen Gelehrsamkeit und stilistischen Konventionalität der Barockzeit das Genie des Komponisten, sein “eigentliches Wesen” am meisten zum Ausdruck brachten. Dementsprechend galt sie mehreren Generationen als “das” Bachsche Orgelwerk schlechthin, welches besonders außerhalb Deutschlands am häufigsten auf den Programmen stand. Berühmtes Indiz für solche Wertschätzung: Leopold Stokowskis pompös-effektvolle Bearbeitung für Großes Orchester, die Walt Disney Anfang der 40er Jahre auch seiner (immerhin abstrakten!) Zeichentrickverfilmung des Stücks in “Fantasia” zugrundelegte.
Unter den Jugendwerken Bachs für Orgel ist die d-moll-Tokkata (zusammen mit Präludium und Fuge D-Dur/BWV 532) ohne Zweifel der bedeutendste Wurf, gleichzeitig aber – auch im Blick auf das Gesamtschaffen – in vieler Hinsicht atypisch, singulär. Das wirft die Frage auf, wieso gerade dieses, von so vielen anderen meisterlichen Orgelwerken Bachs an Qualität übertroffene Stück derart hoch eingeschätzt worden ist. Für jeden, der das Stück einmal gehört hat, liegt die Antwort auf der Hand: keine andere Orgelkomposition Bachs kommt in diesem – erstaunlichen! – Maße romantischem Musikempfinden und romantischer Musikauffassung so entgegen wie diese. Aufrichtiges Pathos, effektvolle Virtuosität, sich ständig wandelnder Fluß der Emotion, dazu eine dem Hörer sehr entgegenkommende und leicht faßliche, figurativ-melodisch orientierte Polyphonie, durchsichtiges Klangspiel, – das alles vereinigt sich zu einer mitreißenden Leistung, die, gemessen am Zeitpunkt ihres Entstehens (1707-1709?), als etwas ebenso Genial-Unerhörtes gewertet werden muß, wie sie manche musikgeschichtliche Entwicklung vorwegnahm und insofern in der Tat “überzeitlich‘” im apostrophierten Sinne ist.
So ist die d-moll–Tokkata zur Trägerin einer historischen Funktion von großer Bedeutung geworden: es ist mit das Verdienst dieses Stückes, auch in Zeiten großer innerer Ferne zur Barockmusik und zu Bachs Schaffen ein beim breiten Publikum akzeptierter Vorreiter gewesen zu sein, in dessen Gefolge mit den Jahren das Interesse und tiefere Verständnis für Bachs Orgelmusik insgesamt neu gedeihen und sich wieder voll entfalten konnte.
Es ist schwierig, das Stück über die Definition “Jugendwerk” hinaus wirklich präzis zu datieren. Der allgemeine stilistische Duktus weist zunächst einmal in die Arnstädter Zeit. So fällt in dieser Hinsicht z.B. die große Ähnlichkeit der Faktur zwischen einigen Stellen in der Fuge und entsprechenden Partien in den g-moll-Fugen BWV 535 und 578 ins Auge. Andererseits lassen die in hervorstechendem Maße instinktsichere Gestaltungskraft und der modulatorisch formende Reichtum der Fuge an eine etwas spätere und reifere Phase denken. Wahrscheinlich hat Bach -wie nachweislich bei BWV 532 (Fuge) und 535- an dem Stück bessernd und entwickelnd weitergearbeitet.
Die einleitende Tokkata mit ihrem berühmten Anfang
kontrastiert anfangs Unisono-Passagen beider Hände mit arpeggierten Akkordballungen (amalgame Bildung aus tiefem Pedalgrundton + vermindertem Septakkord aus dem Dominantseptnonakkord). Darauf löst die linke Hand einen Orgelpunkt auf a′′ zu einem Repetitions-Martellato auf, während die rechte, auf anderem Klavier, eine erregte Sechzehntel-Stakkatolinie zum hohen b′′ hinauf, zum tiefen d hinabeilen lässt. Arpeggiobildungen über dem bekannten, in der Barockzeit notorischen Lamentobass d-c-b-a und wilde Zweiunddreißigstelläufe leiten zu jener berühmten Prestissimopartie über, in der die dramatische Wirkung des arpeggiert auskomponierten verminderten Septakkordes zum ersten Male in der Musikgeschichte, wie es heißt, erkannt und genutzt worden ist. Obgleich der Effekt in der späteren Musik, besonders im 19. Jahrhundert, bis zum Überdruß ausgeschlachtet wurde, hat die Stelle nichts von ihrer hinreißenden Vehemenz verloren. Sie mündet in machtvolle Akkorde, ein kurzes Pedalrezitativ und die Schlußkadenz.
Der Linienzug des Fugenthemas geht auf den Beginn der Tokkata zurück:
Die Kontrapunktik ist zu Beginn “generalbaßmäßig”, aus Akkordbrechungen abgeleitet, um sich dann ins Lineare zu intensivieren. Die Exposition zieht sich dadurch in die Länge, daß der Baßeinsatz im Pedal auf sich warten läßt; er erscheint erst nach ausführlichem, frei gestaltetem Intermezzo. Mit der abschließenden Wendung in die Durparallele F-Dur ist der erste Einschnitt erreicht.
Offenbar den Nebenklavieren zugedacht ist die folgende auflockernde Episode; meist ein- und zweistimmig disponiert, rechnet sie mit Echoeffekten. Dem Thema begegnen wir hier nur einmal gleich zu Beginn. Nach d-moll zurückgekehrt, geht es mit energischen Zweiunddreißigstelläufen wieder an die fugierte Arbeit. Überraschend werden wir nach c-moll geführt, von dort aus schrittweise nach g- und d-moll; in dem nicht streng stimmig gehaltenen Satz hören wir das Thema im Pedal, dann dreimal in der Mittelstimme. Schließlich pendelt sich die Musik (mit formaler “Doppelpunktwirkung”) auf der Dominante (A-Dur) ein und macht das Feld frei für einen solistischen Auftritt des Themas im Pedal, welches schon einige Zeit zuvor verstummt war, nun aber durchgehend geführt wird und so das Geschehen steigernd verdichtet. Energische Kadenzakkorde scheinen die Fuge zuendezubringen, doch es folgt der berühmte Trugschluss nach B-Dur (mit voraufgehender Molldominante!) – ein elementarer Effekt, der die alsbald losbrechende Schlußtokkata (Laufwerk, Akkorde, Pedalrezitativ, Akkordstretta, pompöse Adagiokadenz) in unüberbietbarer Weise plausibel macht.
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- Zuletzt aktualisiert: 21. Mai 2014
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