Versinnlichte Sinnstiftung: Bachs Musik als rational-emotional bewältigender Lebensprozeß
Ganz gleich, ob wir eine Komposition hören oder sie selbst musizieren: Nicht wir sind es – es ist die Musik, welche die Zeitspanne ihrer Realisation bzw. Rezeption vorgibt und damit immer ein Stück einmalig zur Verfügung stehender Lebenszeit in Anspruch nimmt. Während wir selbst entscheiden, wie viel Zeit wir auf die Rezeption eines Werkes der Literatur oder der bildenden Künste verwenden (und dabei nach Belieben diese Rezeption auf einzelne zeitliche Unterabschnitte verteilen können), vermittelt sich uns ein Musikstück (hierin dem Drama gleich) als Ereignis und Erlebnis, das an einen ganz bestimmten Zeitraum gebunden ist. Es gilt: Musik realisiert sich stets als konkreter, in sich geschlossener Abschnitt unseres Lebens selbst.
Die “natürlichste” und meistverbreitete Form, Musik als Hörer zu durchleben und zu erleben, ist, sich ihrer physischen Präsenz, d.h. ihren rhythmisch-vitalen Impulsen, ihrer Klangsinnlichkeit und den von ihr vermittelten Stimmungen zu öffnen. Musik, die “unter die Haut geht”, die “in die Glieder fährt”, die “Gefühle ausdrückt” und die “zu Herzen geht” – es wäre verfehlt, diese “conditio sine qua non” allen musikalischen Erlebens als naiv, primitiv oder nachgeordnet zu definieren.
Es mag heutzutage eher befremden, bestimmte Aspekte dieser “conditio sine qua non” überhaupt in Frage zu stellen, aber es hat in der musikalischen Mentalitätsgeschichte Situationen gegeben, in denen man das mit Nachdruck (und in damaligen Zusammenhängen teilweise auch sinnvoll) getan hat. Von außerordentlich prägender und weitreichender Nachwirkung war in dieser Hinsicht etwa das Postulat des Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts namhaften Wiener Musikkritikers Eduard Hanslick, Musik sei “tönend bewegte Form” und weiter nichts. Hanslicks Sicht hat auf die ihm direkt nachfolgenden Generationen erheblichen Einfluß ausgeübt und dazu beigetragen, den geistigen Paradigmenwechsel hin zur musikalischen Moderne zu fundamentieren. Man denke – um nur diesen einen illustren Akzent zu setzen – an Igor Strawinskys pointierten Ausspruch, Musik sei nicht in der Lage, Gefühle auszudrücken. Aus heutiger Distanz ist natürlich leicht erkennbar, daß diese Position mit dem Bemühen zusammenhängt, spätromantisch übersteigerte, formsprengende Emotionalität kritisch zu kontrapostieren und sich vom Musikempfinden der Romantik programmatisch versachlichend zu emanzipieren.
Im Rahmen dieser Entwicklung nahm die nachromantische Kunstmusik besonders das Werk Johann Sebastian Bachs als Wegweiser für ihre Bestrebungen in Anspruch: Kein anderes kompositorisches Schaffen wurde so zur genialen Inkarnation der Hanslickschen These verabsolutiert. Daß dies eigentlich nur möglich ist, wenn man das gesamte Bachsche Vokalœuvre oder zumindest wesentliche seiner Elemente großzügig übergeht, geriet dabei oft genug aus dem ideologischen Visier. Die Wahrnehmung konzentrierte sich vorzugsweise auf Bachs Instrumentalmusik, insbesondere auf die Tasten-, also Klavichord-, Cembalo- und Orgelmusik als Inbegriff tönend bewegter musikalischer Form.
Diese auch heute noch virulenten Klischees von der Formalität Bachscher Musik – positiv als “vergeistigendes Handwerk” und “klingende Logik”, ablehnend als “musikalische Mathematik”, “abstraktes Glasperlenspiel”, “nur Eingeweihten zugängliche Arkanwelt” – haben hier ihre Wurzeln. Obgleich der Akzeptanz Bachs weitaus weniger abträglich, als zu befürchten stand (auch so blieb Bach die Riesengestalt, die er immer war), verzerrten die eben genannten Schlagworte doch nachhaltig Art und Weise der Bachrezeption. Einer Rezeption, die darum dem entscheidenden Wesen und Wert Bachscher Musik in keinem Fall gerecht werden konnte, ganz gleich, ob man sich dieser Sichtweise bejahend öffnete (im folgenden als “Rezeptionsvariante A” etikettiert) oder in Abwehr verschloß (“Variante B”).
Noch bis in jüngste Vergangenheit war bei uns “Variante A” die deutlich salonfähigere. Zunächst aufgrund der skizzierten musikgeschichtlichen Zusammenhänge und entsprechender zeitgenössischer Produktion, mehr aber noch nach dem Zweiten Weltkrieg, als in den Künsten Freisetzung von Emotion und enthusiastisch-pathetische Entgrenzung durch vielerlei vorangegangenen Mißbrauch für lange Zeit obsolet geworden war. Bis weit in die 60er Jahre hinein sah man in Bachs Musik den kristallinen, emotional streng kontrollierten Zufluchtsort, an dem es galt, sich im Dienste stringenter Logik asketisch zu läutern und einen Kosmos (oft auch theologisch) durchgeistigter Formen zu abstrahieren. Deshalb war dieser Epoche der scheinbar “objektivierende” Klang von Orgel und Cembalo so willkommen. Die klangliche Umsetzung solcher Ästhetik führte zu einem Interpretationsstil, der im Tempo ordinario wackere Uhrwerkhaftigkeit (“biederes Barock”), im Adagio betulich-grämliche “Nachdenklichkeit”, im Allegro aber jene berühmt-berüchtigte Musizierhaltung zeitigte, für die sich bald der Spitzname “Nähmaschinen-Bach” einstellte.
Als nicht ganz ungesunde Gegenreaktion darauf etablierte sich die “Rezeptionsvariante B”, die von aller Kompositionswissenschaft, aller Kunst und Künstlichkeit Bachscher Diktion und Formentwicklung nichts wissen und ihren Bach – ebenso bewußt vereinseitigend – auf das eingangs skizzierte vitale Elementarerlebnis reduzieren will. “Wissen Sie”, heißt es dann gern, “was mir an Bach immer so zusagt, ist der jazzige ‘drive’, und seine saftige Akkordik: das hat schon was! Oft sind die Themen ja wahre Ohrwürmer – aber vor allem bei den Fugen hat man davon nur am Anfang etwas und vielleicht noch einmal an der einen oder anderen exponierten Stelle. Ansonsten wird’s ja bei Bach schnell unübersichtlich, es passiert einfach zuviel auf einmal, und all das, was einem so erzählt wird über gedankliche Durchgestaltung, doppelten Kontrapunkt oder die großartige Stelle, die mir mein Klavierlehrer damals angestrichen hat und wo das vergrößerte Thema mit seiner Umkehrung enggeführt wird – also, ich merke das beim Hören gar nicht und finde das auch ganz unwichtig, das ist Professorenweisheit für Leute, die es gern kompliziert und intellektuell haben. Das Wichtige ist doch, wie diese Musik ‘groovt’!” – Es scheint, als gewinne diese Sicht der Dinge gegenwärtig deutlich an Boden.
Fassen wir zusammen: anhand einer (stark vereinfachten) historischen Aufbereitung konnten wir uns vergegenwärtigen, daß es grundsätzlich zwei Perspektiven gibt, Bachs Musik wahrzunehmen. Diese Auffassungen in polarisierenden Gegensatz zueinander zu bringen, mag zwar verführerisch und gelegentlich sogar fruchtbar sein, verstellt aber in Wahrheit den Blick darauf, daß es sich hier nur um Komponenten eines größeren Ganzen handelt, welches den Kern, den wesentlichen Wert, das heilend Ganzheitliche und entscheidend Humane aller bedeutenden Kunstmusik ausmacht. Erst ihr Zusammenspiel, nicht aber ein gegenseitiges sich Ausschließen der Welten elementarer Klangsinnlichkeit und emotionalen Spannungsverlaufs einer-, und der dialektischen Ausarbeitung musikalischer Gedanken und Formen andererseits emanzipiert Musik – einmalig in den Künsten! – zu ihrer umfassend abbildenden Fülle.
Wenn es wie hier darum geht, einen Versuch verbal analysierender Annäherung an einen bedeutenden Teilbereich Bachschen Schaffens zu wagen, ist es unverzichtbar, sich über die Existenz, aber auch über das aufeinander angewiesene Zusammenwirken der genannten Sphären Klarheit zu verschaffen. Es hat sich gezeigt, wie diese Sphären, eigentlich doch Elemente eines untrennbaren Ganzen, gerade bei Bach gern auseinanderdividiert und vereigenständigt werden – mehr als bei jedem anderen großen Komponisten. Und es hat sich auch gezeigt: eine derartige Sicht versperrt ein für allemal den Zugang zur Essenz aller Bachschen Musik, zu ihrer sinnerfüllten Lebensdramaturgie, zu ihrem Ineinandergreifen von Affekt und gedanklicher Arbeit, kurzum: zu ihrer bewältigenden Kraft. Die eingangs ins Bewußtsein gerückte reale Lebenszeit aber, die es für das Hören oder Spielen von Musik zu investieren gilt, kann nicht ihren vollen Wert gewinnen.
Um die folgenden Einzeleinführungen in die freien Orgelwerke Bachs mit dem rechten Verständnis lesen und aus ihnen den rechten Nutzen ziehen zu können, war es erforderlich, diese Überlegungen in verhältnismäßiger Breite anzustellen. Auf den ersten Blick könnte nämlich der Eindruck entstehen, als ginge es bei diesen Einführungen doch wieder nur um eine skelettierende Obduktion, eine abstrahierende Reduktion der Bachschen Musik aufs theoretisch-kompositionswissenschaftlich Formale, um ein Steckenbleiben in musikalischer Mathematik. Die Texte wollen aber auf der gedanklichen Grundlage dieses Vorwortes gelesen sein, und näheres Hinschauen läßt schnell erkennen, daß immer wieder bewußt “unwissenschaftliche” Hinweise auf die Ereignis- und Erlebnisseite der besprochenen Werke eingeflochten sind. Sie sollen daran erinnern, daß Bach uns lebende musikalische Organismen, keine Kristalle in die Hände und Ohren gibt, deren integrale Menschlichkeit sich erst in der ständigen Verschmelzung des Rationalen mit dem Subjektiven manifestiert. Ebenso bewußt wird dabei der naheliegende Vorwurf “dilettantisch-unprofessioneller Musikschriftstellerei” in Kauf genommen. Lebendiges läßt sich nur als lebendig-subjektives Engagement vermitteln. Alles andere führt in die Sackgasse austrocknender Verständnisdefizite. Subjektives Leben und Erleben sind und bleiben konstitutiv mit im Spiel, – beim Komponisten übrigens ebenso wie bei uns Hörern, Interpreten und Erklärern.
Daß trotzdem der Anteil des Theoretisch-Analytischen in diesen Einführungen so dominiert, liegt natürlich an jener wunderbaren und (um einen Lieblingsausdruck Thomas Manns aufzugreifen:) “sittigenden” Künstlichkeit der Bachschen Musik, also eben an dem, was ihre besondere Bedeutung ausmacht. Diese Künstlichkeit, Kunstfertigkeit, gewollte Kunst erschließt sich dem “normalen Sterblichen” in der Regel erst durch extensive Verbalisierung, auf deren Kopflastigkeit – als Durchgangsstadium! – nicht verzichtet werden kann. Nähere Beschäftigung mit Bach stellt nun einmal grundsätzlich hohe Ansprüche. Sie erzwingt geistige Mitarbeit, rechnet mit der Bereitschaft dazuzulernen, verlangt auch, wenn irgend möglich, den Blick in den Notentext. Dazu anzuregen, sich in diese Richtung – je nachdem – neu, wieder oder weiter in Bewegung zu setzen, ist das Anliegen der vorliegenden Arbeit.
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- Zuletzt aktualisiert: 21. März 2014
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