Entstehungszeit: Weimar (Fuge) / Köthen (Toccata)
Wollte man die Präludien und Tokkaten aus Bachs Reifezeit ihrem formalen Wesen nach anhand eines ersten groben Rasters sortieren, so wäre eine Aufteilung der Stücke in solche denkbar, deren Form mehr in der Nähe des Begriffes “Organismus”, und solche, deren Form im Umfelde des Begriffs “Architektur” anzusiedeln wären. Zur letzteren Kategorie zählte dann die großartig-monumentale, glanzvolle F-Dur-Tokkata, die man übrigens ebenso gut – wie es auch geschehen ist – als Präludium bezeichnen könnte, so sehr können die überkommenen Titel und Formbegriffe im Schmelztiegel des Bachschen Personalstils ineinander übergehen. Auch dem weniger geschulten Ohr geht ohne Mühe auf, daß sich die Abfolge der musikalischen Ereignisse zu einer architektonischen Ordnung fügt, die – allerdings nur auf den ersten Blick – geradezu schematisch-symmetrisch erscheint. (Auf Bachs kunstvolle “Unregelmäßigkeiten” zur Vermeidung toter Symmetrie wird weiter unten noch hinzuweisen sein)
Das Stück beginnt über einem 54 Takte lang ausgehaltenen Orgelpunkt auf dem Grundton F mit einem zweistimmigen, weit ausgesponnenen Kanon (Formteil A). Er entwickelt sich aus folgendem kleinen Thema/Motiv:
Dem schließt sich ein 27taktiges, mächtiges Pedalsolo an, das sich wie der Kanon unablässig in lebhaft gestikulierenden Sechzehnteln bewegt (Formteil B). Es nimmt seinen Ausgang von den ersten beiden Takten des A-Motivs/ Themas. Die beiden Schlußtakte des Solos werden durch drei Akkordschläge des Manuals kadenzierend bekräftigt. Diese hier noch ganz nebensächlich wirkenden Akkorde gewinnen im weiteren Verlauf der Komposition besondere formale Bedeutung und seien als eigenständiges Formelement mit dem Kennbuchstaben x markiert.
Nun hebt das Spiel von vorne an. In der soeben erreichten Dominanttonart entfaltet sich, diesmal über dem Orgelpunkt C, abermals der Kanon A, wobei die Stimmeneinsätze gegenüber dem ersten Mal ausgetauscht werden (statt der Oberstimme/ rechte Hand beginnt die Unterstimme/linke Hand). Wiederum folgt das Pedalsolo B, das sich diesmal wirkungsvoll bis zum hohen Pedal-f aufschwingt. (Da dieser Ton auf Orgeln der Bachzeit selten vorhanden war, wird der Umstand, daß Bach dies hohe f verlangt zur Diskussion des Entstehungsanlasses und der Datierung des Stücks herangezogen.) Auf das Solo folgen wieder die Akkordschläge, nun aber – wie stets im folgenden – zu einem eigenständigen, machtvoll gliedernden achttaktigen Formteil (in moll) entfaltet:
175 Takte Musik sind schon verflossen, und doch hat der Hörer, wie jetzt offenbar wird, erst ein gewaltiges Doppelportal durchschritten ( A – B – A – B ) denn nun setzt ein in die Haupttonart F-Dur zurückkehrender, prachtvoll und ausladend gestalteter italienischer Konzertteil ein, in welchem Tuttiabschnitte (C) und solistische Trioteile (D) einander abwechseln. Die C-Teile werden fast ausschließlich, sehr übersichtlich, aber dank wohlüberlegter harmonischer Versetzung und Fortführung nie monoton aus folgendem viertaktigem Einfall gespeist:
Die solistischen D-Teile (auf gesondertem Manual) greifen dagegen imitatorisch und frei fortspinnend den Eingangsgedanken aus A auf und stellen damit eine thematische Verbindung zum Anfang her.
Dreimal lösen nun die Teile C und D einander ab, wobei vor allem das kunstvolle Durchschreiten verschiedener, sich nahestehender Tonartenbereiche sowie Varianten im Detail des Trios (unterschiedliche Abfolge und Verteilung der Themeneinsätze), für Abwechslung sorgen.
Mit Takt 352 beginnt der Schlußteil. Er baut gleichfalls auf dem Material der C-Teile auf, entfaltet und erweitert es aber steigernd und monumentalisierend: Ausdehnung der absteigenden Pedallinien, darüber im Manual einsatzhäufende Klangstaus, Hinzunahme kontrapunktierender Floskeln aus den Trios, vor allem aber – über langem Orgelpunkt auf C – nicht wörtliche, aber doch deutliche Bezugnahme auf die Kanonmusik der A-Teile. Der Abschnitt sei deshalb mit “Ca” gekennzeichnet.
Um die eben aufgezeigten Formverhältnisse vor symmetrischer Schematik und rechenkunststückhafter Penetranz zu bewahren, fügt Bach, wie eingangs angedeutet, gewisse Unregelmäßigkeiten ein. So wird die gleichförmig zweistimmige Sechzehntelbewegung der Kanons (A) durch Auffächerung in nicht-kanonische, klangvolle Dreistimmigkeit unterbrochen (Takte 34-44 und 121-120), ferner das zweite Pedalsolo (B) um 5-6 Takte erweitert (-oder entstand diese Verlängerung durch Einfügen jener Takte, die zum hohen f führen, um diesen Ton an bestimmten Instrumenten auch einmal nutzen zu können?). Die konzertanten C-Teile erfahren auf zweierlei Weise charakterisierende und bereichernde Abwandlung: zum einen wird die achttaktige Akkordfolge x eingefügt (in Teil Ca sogar dreimal und nun in Dur, darum mit groß X symbolisiert), zum anderen durch eine über Trugschluß von Abschnitt x her eingeführte Folge grandioser harmonischer Rückungen, die im neapolitanischen Sextakkord gipfeln, ergänzt durch im Pedal figurierte verminderte Septakkorde.
Insgesamt ergibt sich so folgender formaler Zusammenhang (die “antisymmetrischen” Formelemente x und y mit einbezogen):
A | – | B("x") | – | A | – | B(x) | ||||||
C(xy) | – | D | – C(x) | – | D | – | C(x,y) | – | D | |||
Ca(Xy) |
Doch darf dies analytische Betonen des Formalen, das Hervorheben der sicherlich hier besonders auffälligen architektonischen Elemente nur ein erster Schritt sein. Wesentlich bleibt, wie der musikalische Inhalt, eigentlich untrennbar mit dieser Form verbunden, das Ganze zum Erlebnis macht. Was hier 438 Takte lang (!!) wie in einem großen Zuge an freudig bejahender Kraft über einem federnd schwingenden 3/8-Metrum musikalisches Leben entfaltet, was hier an kontrapunktischer, harmonischer und konzertanter Könnerschaft beziehungsreich zusammenwirkt, gehört zum unabnutzbar Vollkommensten, was Bach für “sein” Instrument geschaffen hat.
Nach so gewaltigem “Vorspiel” hat es jede Fuge schwer, noch Bedeutendes hinzuzufügen. So steht die folgende vierstimmige Doppelfuge etwas zu Unrecht im Schatten der riesenhaften Toccata; sie ist ja auch, allgemeiner Annahme zufolge, schon früher in der Weimarer Zeit entstanden und erst nachträglich der Toccata zugeordnet worden. Von vergleichsweise geringerer Monumentalität und formaler Perfektion, gehört sie doch zu den schönsten Orgelstücken Bachs. Ihr 1.Thema lautet:
Es wird im Stile der traditionellen, auf die Palestrinazeit zurückgehenden Vokalpolyphonie – natürlich in Bachscher Weiterentwicklung! – regelgerecht und meisterhaft durchgeführt (Takte 1-70). Die charakteristischen chromatischen Abwärtsschritte des Beginns sorgen dafür, daß harmonische Farbigkeit entsteht, obwohl die Grundtonart (vgl. alle Themeneinsätze!) beibehalten bleibt. Nach abschließender Modulation in die Dominanttonart C-Dur folgt das 2.Thema, das ganz anderes, instrumentales Gepräge aufweist:
Seine (nur manualiter!) erfolgende Durchführung beansprucht 58 Takte (70-128). Sein hüpfend-züngelndes Wesen wird im Gegensatz zu Teil 1, wo Viertel vorherrschten, von fließenden Achtelkontrapunkten begleitet. Auch Nachbartonarten (d- u. g-moll) werden nun mit einbezogen, schließlich versteigt sich die Musik bis in den c-moll-Bereich. Eine kühne Rückmodulation bringt diesen fröhlich-durchsichtigen, wie ein Zwischenspiel wirkenden Mittelteil zum Abschluß, und es folgt als dritter Abschnitt die krönende Vereinigung beider Themen (Takte 128-170). Das ist kein nur konstruktivistisches Zusammensetzen zweier Tonfolgen, sondern die musikalische Synthese zweier Ausdruckswelten zu einem dritten Neuen. Die fast sehnsuchtsvolle Gesanglichkeit der ersten Fuge, die übermütige Fröhlichkeit der zweiten, das ergibt ein spannungsvolles, changierendes Miteinander! Das Pedal meldet sich mit dem 2. Thema wieder zu Wort, während gleichzeitig im Manual das 1. Thema erklingt:
Die Chromatik des 1. Themas gibt bei weiteren Doppeleinsätzen Gelegenheit zu harmonischen Verwicklungen und dramatisierenden Wirkungen (Takte 143-157!), doch löst sich mit den letzten beiden Einsatzpaaren (wieder in der Haupttonart) alles zu majestätischem Wohlklang auf.
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- Zuletzt aktualisiert: 22. März 2014
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