Entstehungszeit: Arnstadt
Immer wieder unterläuft es, daß Frühwerke Bachs für Tasteninstrumente nach Maßgabe von Ansprüchen beurteilt werden, welche erst seine reifen Meisterwerke in uns geweckt und befriedigt haben. Wir sind für diese Stücke aber nur dann wirklich offen, bewerten sie erst dann angemessen, wenn wir sie im Zusammenhang mit dem betrachten, was Bach etwa gleichzeitig komponiert hat und andere zur selben Zeit leisteten. So gesehen wird die meist sehr gering eingeschätzte, kaum je einmal gespielte h-moll-Fantasie trotz ihrer unaufwendigen Dimensionen zu einem gern gehörten Stück Musik, das durchaus seine Qualitäten hat.
Die früheste erhaltene Abschrift findet sich bereits im Andreas-Bach-Buch, ein Umstand, der die –wohl mittleren– Arnstädter Jahre als Entstehungszeit anzusetzen erlaubt. Das ergibt sich auch eindeutig aus dem zeitstilistischen Befund. (Nach gegenwärtigem Wissensstand kann das sogen. Andreas-Bach-Buch auf vor 1707/8 datiert werden, d.h. zumindest wurde damals mit der Anlage der 55 Stücke (darunter 15 Bachwerke) umfassenden Sammlung begonnen. Initiator und Hauptschreiber war wahrscheinlich Bachs Vetter zweiten Grades Joh. Bernhard Bach (1676-1749); der als zeitgen. Quelle wichtige Band war später im Besitz des Bachneffen Joh. Andreas Bach (1713-1779))
Die zweiteilige Komposition beginnt mit einer Fantasie über den Standardrhythmus
in Pachelbelscher Manier:
Das regt natürlich sofort zu einem Vergleich mit der im gleichen Zeitraum entstandenen Fantasia in C-Dur (BWV 570) an, die denselben Rhythmus thematisiert. Wie viel abgerundeter und musikalisch zielstrebiger ist ihr gegenüber die h-moll-Fantasie gelungen! Nach den beiden devisenartigen Einleitungstakten gewinnt die Musik in einem einzigen großen Bogen, der zunächst verhältnismäßig rasch ansteigt, dann langsam absinkt, den Subdominantraum (e-moll). Daß hier ein markanter Ziel- und Wendepunkt erreicht ist, wird dadurch deutlich, daß nun das (nicht markierte, aber plausibel zu vermutende) Pedal mit stützendem Orgelpunkt eingreift und wichtiger noch: Bach den bisher dominierenden Rhythmus mit lösender, weiterführender Wirkung ad acta legt. Jedoch: die neugewonnene Freiheit fließender Sechzehntelbewegung (zwei Takte komplementär-alternierend, zwei Takte Solostimme) erweist sich als nur kurzlebig und verfängt sich in einem dominantischen, als Fermate aufzufassenden Sextakkord (Takt 19). Die fünf noch folgenden Takte bringen das Stück mit einer sehr schön austarierten Expressivo-Gebärde und in ruhiger Achtelbewegung zuende (auskomponierte Dominante).
Der zweite Teil ist mit “Imitatio” überschrieben. Damit will Bach von vornherein einer Fehleinschätzung und -bewertung des Stückes als Fuge oder Fughette entgegenwirken. Dennoch geschieht dies; bei oberflächlicher Betrachtung, auch im Banne tausendfältig eingeschliffener Hörgewohnheit vermeint man in der Tat, es mit einer Fugenkomposition zu tun zu haben. Aber weder wird das “Thema”
mit dem das Stück eröffnet wird, im weiteren Verlauf zur verbindlichen Grundlage, auf welche der Komponist präzise zurückkommt, noch wird es in seiner ersten und einzigen Durchführung in den Takten 1-19 “ordnungsgemäß” verarbeitet (unregelmäßige Gestaltung des Comes-Einsatzes mit ais statt a, verspätet-asymmetrischer Einsatz der Baßstimme). Vielmehr gehen aus diesem thematischen Gedanken neue, ihm in der einen oder anderen Weise verwandte Formeln hervor, die ihrerseits eine kleine Weile lang durchimitiert, dann beiseitegelassen, hier und da wieder aufgegriffen werden:
Auf der Grundlage dieses Materials entwickelt Bach fünf aneinander gefügte Satzabschnitte. Der erste und dritte (19 bzw. 22/23 Takte lang) führt uns jeweils ins parallele D-Dur, der zweite und vierte (29 bzw. 30/31 Takte) zurück nach h-moll/H-Dur; der fünfte und letzte ist eine Coda.
So ergibt sich insgesamt ein improvisatorisch lockeres, aber doch beziehungsreiches Gefüge, in dem ein thematischer Ausgangspunkt auf unterhaltsam unverbindliche Weise variiert wird. Bei der Wiedergabe dieses fließend und geschmeidig gestalteten Satzes gilt es, alle Schwerfälligkeit zu vermeiden. Trägt man dem beschwingten Dreiertakt durch stilgemäße Akzentuierung/Artikulation Rechnung und überspielt auch nicht die hemiolischen Bildungen, die der rhythmischen Monotonie entgegenwirken, so gewinnen wir aus dem “Mauerblümchen” h-moll-Fantasie ein gelungenes Stück von individuellem und liebenswürdigem Reiz.
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- Zuletzt aktualisiert: 20. Mai 2014
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