Entstehungszeit: Köthen
Über 250 Jahre nach seiner Entstehung hat dies außergewöhnliche Stück musikalischer Weltliteratur nichts von seiner Erstaunlichkeit, nichts von seiner beeindruckenden Kraft eingebüßt. Seine Entstehung wird seiner exzeptionellen Meisterschaft und der Bach nur dort zur Verfügung stehenden Tastenumfänge wegen in die Köthener Jahre datiert. Nicht ganz von ungefähr ist das Werk mit Bachs Hamburg-Reise im Jahre 1720 und seiner eher legendären, jedenfalls letztlich nicht zustande gekommenen Bewerbung um die plötzlich freigewordene Organistenposition an St. Jacobi in Verbindung gebracht worden. Bach hatte sich an allen bedeutenden Orgeln der Stadt hören lassen und an der von ihm besonders hochgeschätzten Orgel der Katharinenkirche ein über zweistündiges Konzert gegeben. An St. Katharinen wirkte als Organist, damals schon hochbetagt, der seinerzeit hochberühmte Jan Adam Reinken (1623/43 - 1722), der bei dem Konzert zugegen gewesen sein und dabei auch Bachs improvisatorisches Können bewundert haben soll. War das Thema der g-moll-Fuge als nur wenig umgeformtes niederländisches Volkslied eine Reverenz vor ihm, dem Niederländer? Der bekannte Hamburger Musikologe und Komponist Johann Mattheson (1681-1764) machte fünf Jahre später anlässlich einer Organistenprobe um die Stellung am Hamburger Dom dasselbe Thema unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Bach zur Examensaufgabe.
Der Zusammenhang zwischen der (in modernem g-moll notierten) Fantasie und der (in g-dorisch notierten) Fuge darf nicht zu eng gesehen werden. Die ganz selbständig denkbaren Stücke sind in den meisten Fällen einzeln überliefert.
Die Fantasie setzt sich aus drei sehr leidenschaftlichen rezitativischen Hauptteilen und zwei elegisch-expressiven Zwischensätzen zusammen. Gedankliche Grundlage ist dort das Motiv
im Pedalbaß vergrößert zu
Der erste Rezitativteil (Takte 1-9) bringt eine imposante, akkord bzw, baßgestützte Riesenlinie in 32tel-Werten, deren Gestus fast die gesamte Klaviatur vom hohen c′′′ bis zum tiefen D umspannt. Nach dem ersten Zwischensatz (seine KIage wirkt nach der Eruption des Beginns kontrastreich introvertiert) nimmt in Takt 14 der zweite Rezitativteil die 32tel-Bewegung wieder auf, wandelt sie aber zu kürzeren Auf- und Abschwüngen um, zwischen denen sich, von Mal zu Mal verwickelter und kühner, harmonische Satzgeflechte bis zur Sechsstimmigkeit entfalten. Besonders dramatisch wirkt hier die erschütternd-unerwartete Wendung nach es-moll (!) in Takt 20/21. Modulationstechnisch virtuos die anschließende Rückführung über f-moll (mehrstimmig) nach g-moll (einstimmig), in dem dann der zweite Zwischensatz (25-31) anhebt. Der dritte Rezitativabschnitt ist in seiner ersten Hälfte ausschließlich von harmonischem Geschehen bestimmt. Was Bach hier an Harmonik (Modulationen, chromatischen Rückungen, Trugschlüssen und enharmonischen Verwechslungen) niedergelegt hat, ist an origineller, weit in die musikgeschichtliche Zukunft weisender Erfindungskraft für seine Zeit einmalig. Nur Bachs Chromatische Fantasie und Fuge für Cembalo (BWV 903) bietet Vergleichbares; unter den Zeitgenossen wäre in diesem Zusammenhang höchstens der gleichaltrige Domenico Scarlatti nennenswert.
In der zweiten Hälfte dieses letzten Rezitativteils gewinnt dann die ursprüngliche 32tel-Bewegung wieder Raum, läßt die im harmonischen und (31-35) durch allmähliches Aufstocken der Stimmen auch dynamischen Crescendo aufgestauten Energien abfließen und führt zu einem letzten Trugschluß von bedrohlicher Wucht, aus dem dann das Pedal mit einem solistischen, chromatischen Aufwärtsgang machtvoll zu endgültigem Abschluß herausführt.
Bei der Bearbeitung des prachtvollen, ebenso melodischen wie prägnanten Themas der Fuge
hat Bach andere Wege beschritten als in der kleinen g-moll-Fuge BWV 578. Während die Kontrapunktik dort dem gleichfalls ausgeprägt melodischen Thema zuliebe meist figurativ-begleitenden Charakter erhält, formt Bach hier ein Satzgefüge, in dem sich alle vier Stimmen mit absolut gleich hervortretender Leuchtkraft bewegen (gleichmäßig obligate Stimmführung). Dies gilt insbesondere für die brillanten und weit ausgreifenden Formulierungen des Pedalparts, der in der Geschichte des Orgelspiels bis dahin seinesgleichen sucht. Resultat solch kompositorischen Verfahrens -und damit verbunden- solcher spieltechnischer Ansprüche ist eine überaus plastische und kraftvolle Schönheit der Tonsprache und eine spannungsvolle, unablässig vorwärtsdrängende Vitalität, die dieser Fuge höchsten Rang in ihrem Genre und nie verblassende Anziehungskraft auf Spieler und Hörer gesichert hat.
Die Fuge gliedert sich im großen in vier, zueinander wohlproportionierte Teile, an die noch ein abschließender Abschnitt mit letztem Pedaleinsatz des Themas und strettahaften Kadenzen angefügt ist (Takte 110-115). Die ersten 36 Takte bringen die Exposition des Themas durch alle vier Stimmen und, nach kurzem Zwischenspiel, seine zweite Durchführung mit drei Einsätzen nacheinander in Sopran, Alt und Baß. Im nun erreichten B-Dur, der Durparalleltonart, folgt eine auflockernde, manualiter gehaltene Partie von 18 Takten; sie leitet ins Zentrum des Geschehens über, zum spannungs- und effektvollen dramatischen Mittel- und eigentlichem Hauptteil des Stücks. Er umfaßt 39 Takte (54-93) und führt, von F-Dur ausgehend in die subdominantisch (c-moll, Es-Dur) betonte Haupttonart g-moll zurück, auf deren Dominante D-Dur er endet. Es schließt sich die jetzt um einen Takt kürzere und nach g-moll versetzte manualiter-Partie an, die schon einmal,in den Takten 36-54 erklang, dann folgen die bereits erwähnten Schlußtakte.
Nun zu einigen Details: formend und ordnend wirken hier zwei dem Thema beigegebene und ständig beibehaltene Kontrapunkte
und
Sie können bei gleichzeitigem Erklingen beliebig in der Vertikale gegeneinander ausgetauscht werden (sogen. dreifacher Kontrapunkt). Folgende Stimmenkombinationen sind demnach möglich:
Thema | Thema | Kp 1 | Kp2 | Kp1 | Kp2 |
Kp1 | Kp2 | Thema | Thema | Kp2 | Kp1 |
Kp2 | Kp1 | Kp2 | Kp1 | Thema | Thema |
Sie ergeben stets ein anderes Hörbild. Die vierte Stimme ist gegebenenfalls frei hinzugefügt.
Im Mittelteil meldet sich ein neues Motiv zu Wort:
Im Zwischensatz taucht in Takt 39 bereits folgende Vorform auf:
Es ist allein schon faszinierend zu sehen, welche Kräfte und Wirkungen Bach im Mittelteil mit diesem lapidaren Gedanken freizusetzen vermag (Takte 54-92)!
Soviel als nötigste Hinweise zum Verständnis der Fuge – eine weitergehende analytische Schilderung dieses meisterhaften Tongebildes ist auf einem Raum, der nur einigermaßen begrenzt bleiben soll, nicht möglich!
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- Zuletzt aktualisiert: 11. Mai 2022
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