Entstehungszeit: Leipzig
Bei der Schilderung und Wertung des “großen e-moll” –so wird das Werk zur Unterscheidung von BWV 533 genannt– greift jedermann unverzüglich nach Superlativen. Und es ist keine Frage, daß diese überwältigende Schöpfung den Gipfelpunkt des Bachschen Orgelschaffens markiert –in unmittelbarer Nachbarschaft mit dem etwa gleichzeitig entstandenen Präludium in h-moll (BWV 544/1), dem Präludium in c-moll (BWV 546) und dem etwas späteren Präludium und Fuge in Es-Dur (BWV 552). Wir erleben hier einen einmalig vollkommenen musikalischen Organismus, in dem auf höchstem Niveau so heterogene Sphären wie Fuge und Konzert, strenges Sicheinordnen und souveränes Sichentfalten, schwerblütige Expressivität und heitere, locker perlende Virtuosität, Lebensarbeit und Lebensspiel eine einzigartige Verbindung eingegangen sind. Bei aller musikalischen und formalen Vielschichtigkeit vermag dies Werk zudem noch einen letzten, in gewisser Weise höchsten Anspruch zu erfüllen: dennoch ganz unmittelbar und übersichtlich zum Hörer zu sprechen.
Das Präludium und 20 Takte der Fuge sind in einer zwischen 1727 und 1731 entstandenen Reinschrift Bachs erhalten. Aus zumindest acht Quellen läßt sich ein weiteres, nicht erhaltenes und älteres Autograph erschließen. Aus diesem Material stammt die Kenntnis der Gesamtfuge, aus ihr wurde bereits die Bachsche Reinschrift von anderer, zeitgenössischer Hand ergänzt. Mithin dürfte die Komposition in den ersten Leipziger Jahren (1723-1729) entstanden sein. Gegen eine frühere Abfassung lassen sich stilistische Gründe, aber auch die Tatsache anführen, daß Bach in diesem Werk den Umfang der Leipziger Orgelklaviaturen genau berücksichtigt
Das Präludium beginnt in lastender Atmosphäre. Über einem in Viertelschlägen aufgelösten Orgelpunkt, der die Grundtonart nachdrücklich markiert, entwickelt sich als Eingangsthema eine akkordbegleitete, viertaktige Linie, deren überbordende Ausdruckskraft bereits große Entwicklungen ahnen lässt:
Zwei Verbindungstakte leiten in die Dominante. Über unablässig in die Tiefe rollenden Skalen im Tenor dialogisieren klagend Sopran und Alt, während der Baß den Gang der Harmonik wie zu Beginn mit Viertelschlägen – die nun aber aufwärts weisen! – markiert. Bemerkenswert, wie Bach bei den Tonleitern im Tenor das tiefe Manual-C meidet. Diese Wirkung spart er sich für die Reprise am Schluß auf! Auf– und abwärts wogende Sequenzen (Takte 12-18/19) formen mit eindrucksvoller Gebärde den Abschluß des ersten Abschnitts (Hauptsatz; A).
Den allgemeinen Prinzipien der Konzertform entsprechend, an denen sich das Präludium orientiert, ist jetzt ein Seitensatz zu erwarten. Das geschieht auch, doch muß gleich hinzugefügt werden, daß Bach in diesem vielschichtigen, großdimensionierten Stück mit drei verschiedenen Seitensätzen arbeitet und erst dem zweiten Seitensatz die typische Funktion der “kleinen, solistischen” Besetzung mit auflockernder, kontrastsetzender Wirkung zuweist (s.u.)! Man ist demnach versucht, den hier zunächst folgenden ersten Seitensatz (Takte 19-32/33) als Seitenhauptsatz zu definieren (B), denn er bleibt von der Besetzung (weiter obligates Pedal), vom Satz und vom musikalischen Inhalt her bei der in A angeschlagenen Intensität und Dichte. Sein erstes Motiv
spielt –in ebenso geistvoller wie organischer Verschränkung– auch im zweiten Seitensatz eine konstitutive Rolle (s.u.). Nach dieser „insistierenden“ Figur, die in den Takten 21-23 im Tenor sequenzierend fortgesetzt wird, kreist die Musik drei Takte lang „ratlos“ in Akkordfigurationen, um sich dann (27-33) in kleinen Sequenzketten mühsam in die Molldominante (h-moll) hochzuarbeiten.
In dieser Tonart hören wir nun eine vollständige Wiederholung des Hauptsatzes (A), wobei in den Takten 33-46 Sopran und Alt gegeneinander ausgetauscht sind. Dies Verfahren, das meistens großes satztechnisches Dispositionsvermögen voraussetzt, wendet Bach bei solchen Wiederholungen der verlebendigenden Variation wegen gern an. Man beachte auch die Umbildung der Pedalstimme: die Viertelschläge in den Takten 33ff und 39ff bewegen sich jeweils entgegengesetzt wie zuvor (1ff. und 7ff.). In Takt 50/51 geht diese Wiederholung von A, und damit der als Einheit empfundene, erste Großabschnitt zuende.
Mit Beginn des zweiten Seitensatzes löst sich nun der innere Druck. Die musikalische Grundstimmung geht vom tiefernst Heroischen und Pathetischen ins Lieblichere, Lyrisch-Elegische über. Das Pedal schweigt bis auf einen stützenden Orgelpunkt in der zweiten Hälfte, harmonisch geht es erstmals in Durbereiche. Am Anfang steht (stets) folgender, neuer Gedanke:
Bach verknüpft ihn anschließend mit dem Eingangsmotiv des ersten Seitensatzes, das durch Stimmentausch (Pedal in den Sopran, Tenor in den Baß, Sopran in den Alt), Verlegung nach Dur und durch Verdopplung auf vier Takte eine ganz andere musikalische Qualität gewinnt. Bevor Bach diesen insgesamt achttaktigen, von h-moll nach A-Dur führenden Seitensatzabschnitt wörtlich wiederholt (Takte 61-69, nun von e-moll nach D-Dur gehend), schiebt er im Dienste einer Modulation zwei Takte lang ein neues, aus dem Eingangsthema von A abgeleitetes Motiv ein
das dann acht Takte später – nach Wiederholung des zweiten Seitensatzes (C) – Grundlage des dritten Seitensatzes werden soll (D)! Auf diese Technik “devisenhafter” Vorankündigung und späterer Ausarbeitung treffen wir, in meisterhafter Handhabung, schon bei Heinrich Schütz (vgl. “Geistliche Chormusik‘” von 1648).
Nach der Durchführung von D (Takte 69-81), dessen zweite Hälfte aus einer freien Fortspinnung besteht und in die Paralleltonart G-Dur führt, setzt eine kurze, markante Variante von A ein, die sich auf zweimalige Durchführung des Eingangsthemas beschränkt (einmal in G-Dur, dann –nach Modulation- in a-moll, das Thema im Tenor). Anschließend hören wir wieder C (erste Hälfte, 90-94), sodann B (94-115) ohne das Eingangsmotiv, das erst am Ende angehängt erscheint, jedoch 103ff. durch eine achttaktige, dreistimmige Episode erweitert, welche die abschließende Floskel des Soprans aus dem gerade erklungenen Kadenztakt 102 verselbständigt und zur motivischen Grundlage des weiteren erhebt, schließlich letztmalig und hochexpressiv gesteigert C (115-125, vollständig, die erste Hälfte verlängert).
Jetzt schließt sich der Kreis und die Musik mündet in eine letzte Reprise des Hauptsatzes ein, die bis auf die fehlenden, ersten sechs Takte vollständig ist. Solche “geköpften‘” Reprisen finden sich in Bachs Konzertform-Bildungen häufig. In diesem Fall erleben wir sie als besonders sinnträchtig, weil sich ein formaler Spannungsbezug zu den Takten 80-90 herstellt, wo (gedoppelt!) ja eben jene fehlenden Eingangstakte für den Hauptsatz stehen, ohne ihrerseits das Folgende zu bringen.
Einen Hinweis noch zur Gestaltung des Seitensatzes C: man beachte die steigernde Variation, die Bach der ersten Hälfte dieser Partie angedeihen läßt! Die ersten beiden Male (51ff., 61ff.) laufen die punktierten Achtelstimmen parallel aufwärts:
90ff. gehen sie kanonisch abwärts:
115ff. schließlich übernimmt sie in der Hauptsache die Manualunterstimme allein und führt sie abwechselnd auf- und abwärts, während die übrigen Stimmen, abweichend vom Bisherigen, weitgehend neu und musikalisch sehr viel intensiver gestaltet sind:
Als Endergebnis hier noch einmal die Gliederung des Präludiums als Ganzes:
In wenigen Werken hat Bach die Gestaltungselemente so intensiv miteinander verflochten und verquickt wie hier. Beziehungen der einzelnen musikalischen Gedankengänge zueinander scheinen geradezu organischer Notwendigkeit zu entspringen. Es entsteht also mehr als ein nur architektonisches Gefüge (vgl. das eingangs zu BWV 540 Gesagte). Besonders durch die (nach unserer Analyse) doppelte Verwendung des Motivs aus Takt 19, in den Seitensätzen B und C entsteht ein Ausmaß an gegenseitiger Verschränkung, das es schwer macht, die Dinge wirklich eindeutig zu scheiden. An einigen Punkten wird man verschiedener Auffassung bleiben dürfen.
Anders als das Präludium, über das man in dieser Hinsicht endlos diskutieren kann, ist die kühn-geniale Fuge offensichtlich mehrmanualig konzipiert. Auch hier signalisiert bereits das ungewöhnliche Thema dem Hörer sofort, daß er Besonderes zu gewärtigen hat. Aus der etwa wie folgt aufzufassenden Harmoniefolge
mit dem damals noch sehr “modernen”, alterierten Quintsextakkord (x) leitet Bach einen latent zweistimmigen Linienzug ab:
Takte 1-59 Dieser Gedanke wird zunächst einmal in zu erwartender Weise zu einer zügig und souverän musizierenden Fuge verarbeitet, die in einem großen Bogen 59 Takte umfaßt. Auf große modulatorische Wanderungen wird dabei vorerst verzichtet – die Chromatik des Themas liefert Farbe genug. So werden lediglich die Grundpositionen des e-moll Bereiches abgeschritten. Dem Thema ist folgender Kontrapunkt beigegeben, dem wir immer wieder begegnen werden:
Nach der Exposition (Tenor-Alt-Sopran-Baß) ist die Dominante H-Dur erreicht. Die Takte 23ff. leiten mit kraftvollen Sequenzbildungen nach e-moll zurück, und es beginnt (T.33) eine zweite Durchführung von bewundernswerter Zwanglosigkeit. Einsätze des Themas: Takt 33 im Alt (e-moll), 44 im Tenor (a-moll) und 51 im Sopran (e-moll, aber –die harmonische Doppeldeutigkeit des Themas nutzend- über dominantischem Orgelpunkt auf H).
Takte 60-120 Fast überfallartig kommt nun völlig Neues ins Spiel, ein Element, das sich dem Thema konträr entgegenstellt und den ganzen Mittelteil der Fuge (Takte 60-172/173) prägen wird; solistisch kadenzierende, tokkatenhafte Virtuosität in Sechzehntelläufen aller Art. War die Fuge bisher von Achtelbewegungen getragen, so bricht schon aus dem Schlußakkord des ersten Teils wie aus heiterem Himmel eine rasante Sechzehntelpassage hervor, stürzt abwärts, verfängt sich zwei Oktaven tiefer und schießt wieder in die Höhe, um in eine Figur einzumünden, die –wie sich später zeigt– Funktion eines Nebenthemas hat:
Ihre halb ausgeschriebene, halb latente Mehrstimmigkeit, in der immer wieder zwei Linienzüge auseinanderzustreben scheinen, weist Verwandschaft zum Fugenthema auf: der neue Gedanke ist dessen koboldhaft quirlendes und irrlichterndes Geschwister. Die meisterhafte, verzwickt figurierte und harmonisch grundierte Passage erinnert stark an verstiegene Momente in den Cembalokadenzen des fünften Brandenburgischen Konzerts und des a-moll-Tripelkonzerts, aber auch an die Solomanualpartien der Pièce d’Orgue in G-Dur (BVV 572). Nachdem die ganze e-moll-Skala abgeschritten ist, gebietet das Pedal mit dem Fugenthema Einhalt. Doch beginnt das Spiel, diesmal in h-moll, sogleich von neuem, um –wörtlich transponiert– abermals vom Thema im Pedal blockiert zu werden (Takte 80-84). Das virtuose Treiben der Sechzehntel ist nicht aufzuhalten: neue Skalenfiguren schießen als pedalbegleitete, brillante Sequenzen in die Höhe, eilen nach A-Dur (Orgelpunkt). Das Thema wirft sich ihnen im Manual samt beibehaltenem Kontrapunkt in den Weg (D-Dur), vergebens, die Sechzehntel brechen sich weiter, klangvoll von Haltetönen sekundiert, rauschend Bahn. Jetzt (Takt 97) versucht eine motivisch verselbständigte Kontrapunktfloskel aus der Fugenexposition (Takt 10) beruhigend einzuwirken. Auch dies umsonst: neue Skalen stieben akkordgestützt in die Höhe. Wie schon einmal, erreicht das Pedal einen Orgelpunkt (d), darüber hören wir –diesmal mit vertauschten Stimmen– nochmals Thema und Kontrapunkt (G-Dur). Doch gibt es noch immer kein Halten: jetzt steigen, satztechnisch ebenso gewagt wie überzeugend bewältigt, Sechzehntelskalen im Manual und Viertelskalen im Pedal gleichzeitig (!) aufwärts, um schließlich mit einem transponierten Abschnitt aus dem ersten Teil der Fuge konfrontiert zu werden (Takte 116-119/120 = 25-28). Damit sind wir wieder in h-moll angekommen.
Takte 120-136 Etwas Neues greift als Auslöser/ Vorbote einer musikalischen Wende in das Geschehen ein. Über doppeltem Orgelpunkt (getupft im Baß, als insistierende, pausendurchbrochene Sechzehntelfiguration im Tenor) erklingt folgendes, beschwörend klagendes Duett:
Es läßt sogleich an ähnliche Gänge in Buxtehudes großartigem fis-moll-Präludium denken. Nach vier Takten mischt sich, von h-moll nach D-Dur modulierend, das Nebenthema (Anfang Mittelteil. s.o.) für zwei Takte ein. Wieder vernehmen wir das Duett (Sopran-Tenor, Orgelpunkt: Alt-Baß), wieder folgt eine Modulation mit dem Nebenthema (von D-Dur nach fis-moll), und nochmals der „Buxtehudische“ Gedanke – in fis-moll (Duett: Alt-Tenor, Orgelpunkt: Sopran-Baß). Von der Höhe des Sechzehntelorgelpunktes im Sopran schießt eine letzte schnelle Skala in die Tiefe – im Pedal setzt, damit den Abschnitt
Takte 136-160 beginnend, das Fugenthema ein. Endlich scheint die Rückkehr in gezügelte Achtelbewegung gelungen! In reiner Fortspinnung, dabei ausladend modulierend, fließt die Musik 15 Takte dahin. Ein Themeneinsatz im Alt (C-Dur über dominantischem Orgelpunkt auf G) beendet die Episode. Ganz überraschend bricht in den
Takten 160-172 noch einmal die erregte Sechzehntelbewegung durch. Eingebettet in den vierstimmigen Satz schießen im Manual Läufe auf- und abwärts, zerstieben zu Kleinfiguren (Takte 168/169). Endlich gewinnt das Pedal den Orgelpunkt H, die Heimkehr verheißende Dominante der Haupttonart e-moll.
Takte 173-231 Zunächst noch gar nicht recht wahrnehmbar, in seiner eigentlichen Bedeutung erkennbar, verdeckt von Kontrapunkten der weiter durchgehaltenen Vierstimmigkeit, setzt im Tenor das Fugenthema ein, um die wortwörtliche Reprise des gesamten Eingangsteiles einzuleiten. Erst wenn das Pedal abkadenziert hat und verstummt, erst wenn der Satz auf zwei Stimmen zurückgeht und der Alt das Thema bringt, wird deutlich, was hier geschieht! Nirgendwo gelingt bei Bach eine Dacapo-Reprise musikalisch zwingender und überzeugender als hier, wo es gilt, die überquellende Fülle des über 110 Takte langen, in genialer Freiheit gestalteten Mittelteiles rahmend zu bändigen und dies überwältigende, großartige Meisterwerk zu angemessenem Abschluß zu bringen.
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- Zuletzt aktualisiert: 18. Mai 2014
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