Entstehungszeit: Weimar
Bachs in Weimar wirkender, entfernter Vetter Johann Gottfried Walther (1648-1748), der die Piece d’Orgue in G-Dur in einer um 1712 entstandenen Abschrift im Frühstadium überliefert hat, definiert in seinem bekannten Musiklexikon von 1732 den in der deutschen Barockmusik selten verwendeten Formbegriff “Pièce” so: “Pièce…wird hauptsächlich von Instrumentalsachen gebraucht, deren etliche als Teile ein ganzes Stück zusammen konstituieren”. Das Werk ist – ähnlich wie das darum unter gleichem Titel “Pièce d’Orgue” überlieferte Präludium in D-Dur (BWV 532) – aus drei stark kontrastierenden, aber eng aufeinander bezogenen Teilen geformt. Aus den späten 1720er Jahren (Leipzig) stammt die früheste Abschrift der endgültigen Fassung, in der vor allem Teil 1 weiterentwickelt worden ist. Erst längere Zeit nach Bachs Tod entstandene Quellen bieten den Titel “Fantasie”, teilweise auch “Präludium”. Der geläufigere Titel für das Werk ist durch entsprechend betitelte Veröffentlichungen dennoch jener der “G-Dur-Fantasie” geworden.
Das Stück zählt zu den allerbekanntesten und meistgespielten Orgelwerken Bachs. Dadurch gerät manchmal das Bewußtsein dafür in Gefahr, daß wir es mit einer der schönsten, originellsten und wirkungsvollsten Schöpfungen des Meisters für die Orgel zu tun haben, die ebenso mit gedanklicher Frische und Könnerschaft im Detail wie durch große innere Sicherheit und Zielstrebigkeit im Duktus, vor allem aber durch eine großartige Gesamtdisposition besticht.
Der 1.Teil (Frühfassung: unbezeichnet / Endfassung: Très vitement) bringt ein Manualsolo mit weit ausgesponnener, einstimmiger Linie. Ihre (typisch Bachsche!) Machart suggeriert den Eindruck latenter Mehrstimmigkeit vor gedachtem, aber hindurchklingendem akkordlichem Hintergrund. Weitere innere Spannung erwächst dem Solo durch dialektische Gliederung der ersten 18 (von insgesamt 28) Takten: jede 12/8-Takteinheit wird – anfangs sogar in rhythmischer und linearer Variation –
wiederholt. Die letzten 10 Takte greifen in Gliederung und Tonumfang weiter aus. Die Linie wird bis zum tiefen G hinabgeführt, um alsbald bis zum hohen fis′′ (Leitton!) aufzusteigen. Dort bricht sie überraschend ab – die Auflösung des fis erfolgt über einen Absturz hinunter zum tiefen G des (pleno registrierten) Pedals. Damit beginnt der
2.Teil (Frühfassung: Gayement / Endfassung: Gravement). Gleich darauf fallen die Manualstimmen ein; es entsteht ein voller, fünfstimmiger Satz, der sich als spezielle Version des “stile antico” von besonders fesselnder, bachisch ausgeprägter Eigenart zu erkennen gibt, d.h. das akademisch-konventionelle Stilmuster einer Kontrapunktik, die sich von der klassischen Vokalpolyphonie des ausgehenden 16.Jahrhunderts herleitet (siehe auch BWV 588/89), erfährt unter Bachs genialem Zugriff eine Wendung ins originell Ungewöhnliche (harmonisch-modulatorischer Einfallsreichtum!), entwickelt eine nicht nachlassende, ins Riesenhafte gehende innere Spannung, und wird auf einen ebenso überraschenden wie beeindruckenden Endeffekt hin dramatisiert, wie ihn bislang keinem anderen Komponisten zu ahnen und zu realisieren gegeben war. Es bedürfte an dieser Stelle allzu wortreicher Analyse, um ausreichend zu veranschaulichen, wie Bach aus so gängigen Floskeln des alla-breve-Stils, wie z.B.:
ein so kraftvoll ausladendes musikalisches Geschehen heranzubilden versteht. Bis auf eine kleine Zäsur im Pedal bewegt sich der fünfstimmige Satz über volle 157(!) Takte hin in großen Bögen und Zügen, in stetem, atmendem Auf und Ab dahin, bis sich ihm endlich 28 Takte vor Schluß die Dominante (D D-Dur) in einer Weise in den Weg stellt, als wolle sie Einhalt gebieten. Doch die Pedalstimme strebt weiter, sie löst das tiefe D nicht zum G der Tonika hin, sondern durchmißt nun in wuchtigen Ganznotenwerten Schritt um Schritt zwei volle Oktaven bis zum hohen d′ hinauf, – darüber immer weiter das Geflecht der vier Manualstimmen. Wieder gelingt der Absprung in die Tonika nicht, die Pedalstimme sinkt rasch auf ihren kurz vorher verlassenen Ausgangspunkt D zurück, er wird nun zum Orgelpunkt. Die um eine weitere vermehrten Manualstimmen übernehmen es, sich um einen kadenzierenden Abschluss zu bemühen. Bis zum bisher ausgesparten hohen h′′ schwingt sich der Satz auf, die Kadenz scheint zu gelingen, doch abermals und diesmal endgültig zerbricht die Musik in einem letzten Trugschluß (verminderter Septakkord)!
Der 3.Teil (Frühfassung: Lentement, Lento / Endfassung: -) bietet nach einer dramatischen Generalpause die Konsequenzen aus der eben erfolgten musikalischen “Katastrophe”: gestützt von unablässig tiefer sinkenden, pausendurchbrochenen Pedalschritten, die in ein Orgelpunkt-Ostinato auf D münden, wogt der auf eine Stimme reduzierte Manualpart in erregten, aber stetig an innerer Kraft verlierenden 32tel-Sextolen. Seine Arpeggien setzen die Fünfstimmigkeit des Mittelteiles latent fort. Eine gute Weile vermag er sich in mittlerer Lage zu halten, dann sinkt auch er in enger werdender Figuration in die Tiefe. Vom schließlich erreichten tiefen G reißt ihn Bach in kürzester Frist bis zum hohen b′′ empor (der verminderte Septakkord des Trugschlusses von vorhin klingt noch einmal an!), und nach einem letzten Anlauf in ruhigeren 32tel-Sextolen über nunmehr zur Ruhe gekommenem Pedal-D erklingt endlich und triumphal die so lang erwartete Schlußkadenz nach G-Dur!
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- Zuletzt aktualisiert: 17. September 2015
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