Entstehungszeit: 1705–1706 (?)
Dieses technisch brillante und musikalisch ebenso überzeugend wie mitreißend gestaltete Stück hat – ähnlich wie BWV 550 (Präludium und Staccatofuge G-Dur) – Unsicherheiten hinsichtlich seiner Entstehungszeit und, damit zusammenhängend, auch hinsichtlich seiner Authentizität ausgelöst. Immerhin ist das Stück in der Überlieferung ausdrücklich als Bachwerk ausgegeben. Doch ergibt sich für BWV 577 und 550 folgende Schwierigkeit: beide Werke sind in jenem speziellen organistischen bzw. (pedal)cembalistischen Zeitstil geschrieben, den der junge Bach in seinen musikalisch-kompositorischen Entwicklungsjahren vorfand und an den er anknüpfte. Doch weisen alle anderen, mit einigermaßen nachweisbarer Sicherheit in diesen Zeitraum datierbaren Kompositionen Bachs für Tasteninstrumente durchaus nicht die versierte Glätte, die gleichwertige Sicherheit des Niveaus auf, welche die Fuge (und ebenso BWV 550) auszeichnen. Auch setzen beide Werke ein virtuoses obligates Pedalspiel voraus, wie wir es in solcher Form in Arnstädter/ Mühlhausener Stücken sonst kaum antreffen. So ist man dazu gekommen, BWV 550 – zumindest in der vorliegenden Fassung – in die Weimarer oder gar Köthener Zeit zu setzen. Der rein norddeutsche Stil wäre dann ein bewußter Verzicht auf das, was Bach in Weimar inzwischen an italienischen Einflüssen in Tonsprache und Formgebung adaptiert hatte, und ein ebenso bewußtes stilistisches Zurückschalten auf jenen Stil, der ihm vor 1710 nahestand. Man könnte sich das mit besonderen Wünschen von Kennern und Liebhabern, viel mehr aber noch mit Bachs Bewerbungsreise nach Hamburg 1720 erklären. Dort war damals der norddeutsche Orgelstil noch ganz lebendig, so daß man sich mit dessen virtuoser kompositorischer und spieltechnischer Beherrschung sehr hätte empfehlen können. Dieser Gedankengang könnte auch für unsere G-Dur-Fuge zutreffen und die oben genannten Widersprüche ausgleichen. Ebenso gut läßt sich umgekehrt argumentieren und sagen, die Komposition sei doch in Bachs Jugendzeit entstanden und später überarbeitet bzw. weiter ausgearbeitet worden. Dazu würde auch die Nähe zur Cembalotokkata g-moll BWV 915 aus dieser Zeit passen. Auf jeden Fall ist das bemerkenswerte Stück in den elften Band der NBA aufgenommen worden; er versammelt bisher bezüglich ihrer Authentizität in Frage gestellte Werke, bei denen aber mit Bachs Urheberschaft ernsthaft zu rechnen ist.
Das Thema der Fuge lautet:
Wir haben es also mit Musik nach Art einer Gigue zu tun: schnelle 3/8-Gruppen, die hier zu vieren in einen Takt gefügt werden (es gibt auch 6/8 und 9/8-Gigues). Die Gigue ist ein ursprünglich aus Irland kommender schneller Tanz, der in sehr verschiedener musikalischer Ausprägung Europa durchwanderte. In der hier gemeinten Art (3/8-Rhythmen, sehr lebhaftes Tempo), war er im Hochbarock eine italienische Spezialität (’Giga’). Er wurde so auch von Pachelbel (Fuge) und Buxtehude (Suite, Fuge) gepflegt. Unser Stück ist vom Typus “Spielfuge” (siehe Erklärungen zu BWV 531a). Das auflockernd spielerische Element kommt insbesondere durch mehrere Echopartien nach französischer Art hinein. Um das Thema für das Pedal spielbar zu machen, werden im vierten Takt des Themas die Töne (kaum merklich) umgestellt. Solche Adaptionen sind eine kompositorische Spezialität Bachs (vgl. BWV 531 als frühes, primitives, BWV 543 als klassisches Beispiel) und wären damit auch ein Indiz für die Echtheit des Stücks. Souveräner Kunstgriff Takt 82: bis dahin ausgesparte Aufwärtssequenzen fangen die Schwungenergien ab und bereiten organisch auf den Schluß (Takt 86) vor.
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- Zuletzt aktualisiert: 16. Juli 2020
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