Entstehungszeit: Köthen
In wie vielen originellen Abwandlungen, auf welch verschiedenen kompositionstechnischen Ebenen und mit welchen (fast immer unschematisch originellen) Lösungen das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen der von Bach assimilierten älteren und jüngeren Tradition einerseits und der italienischen Konzertform andererseits in Bachs Schaffensprozessen bleibend fruchtbar wurde, machen – mit einer gewissen, unvermeidlichen Monotonie – auch diese Einzelbesprechungen seiner freien Orgelwerke stets von neuem deutlich. Die C-Dur-Tokkata, eines der erstrangigen Spitzenwerke Bachs für Orgel, ist dafür ein besonders fesselndes Beispiel. Ihr formaler Grundgedanke: Die norddeutsche Orgeltokkata – also jene von den Norddeutschen selbst meist “Präludium” titulierte mehrteilige Form – präsentiert als italienisches Konzert. Oder umgekehrt: Das italienische Konzert im Gewand einer norddeutschen Orgeltokkata!
Die inspiriert elegante Meisterschaft der Faktur, die absolut sicher disponierte Gestaltung der verschiedenen Affekt- und Ausdrucksphären verweisen das Werk in die Köthener Jahre. Zur Befestigung solcher Datierung trägt ein wichtiger äußerer Umstand bei: nur in zweien seiner Orgelwerke, der g-moll-Fantasie (BWV 542) und eben der C-Dur-Tokkata (1. Satz) verlangt Bach im Manual das hohe d′′′, und nur in Köthen standen ihm Orgeln mit derartigem Manualumfang zur Verfügung. Viel für sich hat auch folgende, gleichfalls auf Köthen weisende Spekulation: die C-Dur-Tokkata bezieht (auch wie Fantasie und Fuge g-moll) in auffälligem Maße Elemente der norddeutschen Orgeltradition ein (Formglieder, Tonsprachliches, Virtuosität). Besteht hier nicht eine Relation zu Bachs in den Köthener Jahren (1720) durchgeführter Bewerbungsreise nach Hamburg (auch wenn die Orgeln, auf denen er dort spielte, über jenes hohe d′′′ nicht verfügten)?
Betrachten wir die glanzvolle Komposition, immer auch in Hinblick auf das eingangs Gesagte, im einzelnen:
Das Werk besteht aus drei Sätzen, wobei gleich hinzugefügt werden muß, daß der erste und zweite Satz mehrteilig sind; der dritte Satz ist eine Fuge. Daß die Mehrteiligkeit Folge norddeutschen Formeinflusses ist, wird besonders im ersten Satz klar: seinem mehrstimmigen Hauptteil gehen ein Manual- und ein Pedalsolo nach norddeutsch inspirierter Tokkatenart voran. Beide Soli lassen musikalisch, technisch und hinsichtlich ihrer Ausdehnung ihre Vorbilder weit hinter sich. Der witzig-verspielte Beginn des Manualsolos,
seine originelle und brillante Weiterführung (mit den drei wirkungsvoll gesetzten Pedaltupfern auf tiefem Grundton C), dann das glänzende und technisch sehr anspruchsvolle Pedalsolo mit seinen reizvollen Echoeffekten (ein schwereres hat Bach nicht geschrieben) – das alles sucht seinesgleichen in der damaligen Orgelliteratur! Aus den aufsteigenden Treppenschritten am Beginn des Pedalsolos
gewinnt Bach den tonangebenden Linienzug des nun folgenden, mehrstimmigen Hauptteiles:
Doch ist diese Linie nicht allein dessen Thema; vielmehr ist sie in einen zwei Takte umfassenden, fünfstimmigen Satzabschnitt eingefügt, der insgesamt thematischen Charakter trägt:
Er wird sogleich variierend wiederholt, wobei der Sopran in den Tenor, die Unterstimmen nach oben verlegt werden. Daran anschließend hören wir ein von oben nach unten durch alle Stimmen eilendes Motiv, das ebenfalls dem Pedalsolo entnommen ist (siehe Notenbeispiel oben, Motivklammer b):
Insgesamt hat sich also bisher eine Satzkette von dreimal zwei Takten (plus angehängtem Schlußakkord) ergeben. Durch Wiederholungen dieses thematischen Satzgefüges in verschiedenen Tonarten (C g G; a, e; C) gewinnt Bach ein einfaches, formales Grundgerüst. Schematischer Monotonie begegnet er dadurch, daß er die letzte Zweitaktgruppe (Motiv b) in verschiedener Weise ausspinnt (44ff.: Einmündung in Pedaltremoli; 58ff.: stauende Motivverkürzung; 67ff.: Umkehrung des Motivs). Erfrischend wie ein ganz neuer Einfall, lösend und doch wieder sammelnd wirkt die Rückführung in die Grundtonart über von Manualakkordschlägen begleitete Pedalsequenzen (71ff.); doch auch sie lassen sich aus dem Beginn des Pedalsolos ableiten, bieten sie doch dessen Intervalle in rhythmisch verschobener Umkehrung. Man vergleiche:
Nach der Rückkehr in die Haupttonart (die eben angesprochene Partie führte in den Dominantseptakkord, nach dem Abkadenzieren bekräftigen Varianten des Motives b das erreichte C-Dur) hören wir noch einmal die eingangs beschriebene thematische Satzkette, wobei ihr letztes Drittel (aus Motiv b) diesmal um ein Motivglied ausgeweitet, ohne die bisherige Akkordbegleitung in der Mollsubdominante steht und damit nachdrücklich und überzeugend den Ablauf zum Stehen bringt. Über dem schließlich erreichten Kontra-C des Pedals kadenziert das Manual kurz und bündig ab.
Einen Hinweis noch zur Diktion des 1. Satzes: auch aus dieser Perspektive begegnen wir norddeutschen Elementen. Buxtehudes so häufig geübte Satzweise locker durchbrochener Polyphonie im Sinne des “obligaten Accompagnements”, dessen Kontrapunktik eher generalbaßmäßig ergänzend, komplementär rhythmisierend als wirklich obligat linear ist, scheint deutlich mit Pate gestanden zu haben.
Nun zum 2. Satz (Adagio/Grave). Auch er trägt deutlich den anfangs apostrophierten formalen und musikalischen Mischcharakter. In der norddeutschen Orgeltokkata würden auf die einleitenden Manual- und Pedalsolopartien und die erste Fuge (an deren Stelle Bach den eben geschilderten, quasi konzertierenden Satz plazierte) gemeinhin expressiv-rezitativische Abschnitte auf dichter, harmonisch überraschender Akkordgrundlage folgen. Bach fächert dieses Affektmoment in zwei heftig kontrastierende Abschnitte auf. Die Entfaltung des beredt ausdrucksvollen Elements wird dem Adagio übertragen, das ganz nach Art der langsamen Sätze italienischer Violinkonzerte gestaltet ist. Die beseelt schöne Solostimme auf besonderem Manual wird vom Pedal in gespreizt tupfenden Achtelbässen, von der linken Hand generalbaßmäßig begleitet. Das akkordliche, harmonisch überraschende Element tritt dann im siebenstimmigen Grave prononciert in den Vordergrund. Anhand verminderter und übermäßiger Intervallfortschreitungen im Baß, schärfster Dissonanzvorhalte und auch wirkmächtig gesetzter verminderter Septakkorde entwirft Bach hier ein harmonisches Szenario, dessen Wucht – bei adäquater Graveregistrierung – sich kein Ohr und Herz entziehen kann.
Ganz wie in BWV 532 folgt in scharfem Kontrast zur düsteren Kraft dieses gebundenen Stiles die gelöste, spielerische Heiterkeit der Fuge. In der norddeutschen Tokkatenform wäre sie bereits die zweite gewesen und hätte das Thema der ersten im Dreiertakt neu behandelt. Wir sahen ja schon, daß Bach die erste Fuge durch einen konzertanten Satz ersetzte; Funktion und Wirkung dieser Fuge sind insofern eine andere, als sie durch ihr erstmaliges Auftreten die Stringenz des Gesamtablaufs steigert. Einen Rest norddeutscher Bezogenheit mag man aber darin erkennen, daß sie – eine recht seltene Erscheinung bei Bachschen Orgelfugen – an dieser Stelle im eben apostrophierten traditionellen Dreiertakt (6/8) steht.
Was Bach ganz zu Beginn des Werkes im Manual- und Pedalsolo als eine Art musikalischer Devise, als – wie sich nun zeigt – nicht nur beiläufig gemeinten Einfall gebracht hatte, nämlich die pointierte, witzig überraschende Pause, das wird nun im Fugenthema noch einmal grundsätzlich aufgegriffen:
Die 141 Takte lockerer, durchsichtiger, teilweise fast koboldhaft munterer Musik gehören zum Vergnüglichsten, was Bach für die Orgel geschrieben hat. Spätestens die Behandlung der Sechzehntel in den Takten 7 und 8 des Themas, aber auch die weitere Sechzehntelkontrapunktik, die immer wieder auf die lustig kreiselnde, instrumental-figurativ, nicht kantabel-linear gemeinte Formel
zurückgreift, legen nahe, für die Fuge ein flüssiges Tempo anzunehmen. Bei solcher Auffassung wird das Stück zu einem technisch sehr anspruchsvollen Prüfstein für den Spieler, so “leicht” es dann auch auf den Hörer wirken mag. Formale Verständnisschwierigkeiten bereitet die Fuge nicht: Die Exposition (S-A-T-B) kadenziert in Takt 42 auf der Dominante ab. Danach sogleich die Durchführung des Themas in G-Dur (T-B-S), die ins zwischen Tonika und Dominante liegende e-moll mündet. Besonders reizvoll, was jetzt folgt: der Satz dünnt sich zu manualer Zweistimmigkeit aus, die Musik scheint tänzerisch auf der Stelle herumzuwirbeln. Nachdem das Thema zunächst im Alt erklungen ist, setzt es – harmonisch unerwartet eingeführt – im Tenor ein, während der Alt nun in die Tenorpausen mit dem Themenkopf hineinimitiert (Pseudoengführung); der Sopran kreiselt derweil in kleinräumiger Sechzehntelmotorik dahin. Ein nur en passant auftauchendes neues Sechzehntelmotiv leitet in die Dominante von G-Dur über, auf der im Pedal das Thema erscheint; einschließlich einer fortspinnend abschließenden Passage läuft diese Partie von Takt 100 bis 115. Der oben zitierte kleine beibehaltene Kontrapunkt verabschiedet sich aus dem Stück, das nun eine Tendenz zu zerstiebendem Sich-Verflüchtigen entwickelt. Eine schon zuvor dann und wann angeklungene, virginalistisch durchbrochene, diffus verhakelte Satztechnik gewinnt prägende Oberhand. Der Hörer erlebt sie als spritziges Feuerwerk, als kleines Jongleurstück; das Thema greift dazu noch einmal in Takt 123 als dominantischer Comes-Einsatz ein. Auf diese Weise inszeniert Bach eine ganz unauffällig gleitende, lang hinausgezögerte Rückkehr nach C-Dur. In Takt 132 wird es mit dem Themenschluß endlich wie beiläufig erreicht. Eine sehr knappe Solokadenz des Pedals, gefolgt von einer ebenso kurzen des Manuals federt diese Ankunft ab und bestätigt sie in authentischer Kadenz, durch die das Pedal auf einen tiefen C-Orgelpunkt geführt wird. Über ihm – um Hermann Kellers treffende Formulierung zu zitieren – entflieht die Fuge (fuga = Flucht) wirklich, sie läuft davon, läßt den Hörer verdutzt zurück: eine letzte Sechzehntellinie purzelt in die Tiefe, ein kurz abgerissener Achtelschlußakkord schneidet der Musik den Lebensfaden ab…
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- Zuletzt aktualisiert: 21. Mai 2014
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