Entstehungszeit: Arnstadt/Weimar (ca.1708)
Die Doppelfuge in c-moll, den Quellen zufolge über ein Thema von Giovanni Legrenzi (1626-1690, Venedig), laut Rodolfo Zitellini in Bach-Jahrbuch 2013/243ff. aber mit größter Wahrscheinlichkeit über ein Thema von Giovanni Maria Bononcini (1670-1747), zählt zu einer Gruppe ungefähr um 1710 entstandener Stücke, die man mit dem ein wenig ungenauen Begriff “Studienwerke” etikettiert hat. Gesagt soll damit sein, daß es dem jungen Bach offenkundig darum ging, das bisherige Stadium oft noch zu weit ausholender, inspiriert unvollkommener Würfe hinter sich zu lassen und durch intensives Streben nach satztechnischer Gediegenheit, nach akademischer Unanfechtbarkeit zu überwinden. Daß diese neue, handwerklich-bosselnde Arbeitsweise, das saubere Ausformen des Details nicht auf Anhieb zu Ergebnissen führen konnte, deren Gesamteindruck zwingende oder gar mitreißende Überzeugungskraft ausstrahlt, darf nicht verwundern. Immerhin findet Bach auf diesem Wege ein gut Stück weiter zu unverwechselbar eigenständiger Tonsprache, gelingen ihm Partien in jener geschmeidig-gekonnten Diktion, die später sein Schaffen so allgegenwärtig charakterisiert. Den eben beschriebenen Entwicklungsstand repräsentieren neben der c-moll-Fuge in erster Linie BWV 569 und 579, aber auch BWV 588/589 und 535.
Der Quellenbefund ergibt folgendes Bild: die wahrscheinlich schon vor 1708 entstandene Erst- oder Frühfassung (BWV 574b) ist im Andreas-Bach-Buch überliefert. Aus ihr wurde in mehreren Schritten die Fassung BWV 574 glättend und bessernd entwickelt. Ferner existiert eine nicht zeitgenössische, abweichende Fassung 574a. Man darf aus all dem schließen, daß Bach auf dies Stück einen gewissen Wert gelegt hat, daß es in seinem Hause in nicht nur einem Exemplar von seiner Hand in der instrumentalen und kompositorischen Unterweisung eine gewisse Rolle gespielt hat.
Die Komposition Legrenzis, aus der das Thema stammt, wurde bisher nicht aufgefunden. Durch seine harmonisch einfache, zwei Takte lang auf der Tonika verweilende Struktur
bietet das Thema die denkbar günstigsten Voraussetzungen für die Kombination mit einem zweiten Thema, also für die Komposition einer Doppelfuge. Damit ergibt sich folgende Form: 1. Abschnitt Fuge über Thema 1, 2. Abschnitt Fuge über Thema 2, 3. Abschnitt Fuge über Themen 1+2. Als 4. Abschnitt fügt Bach noch einen freie Tokkata an.
Abschnitt 1 gliedert sich in folgende Teile: Takt 1-14 vollständige Exposition (Alt, Tenor, Baß, Sopran), dann Zwischenspiel, Takt 18 Thema in der Molldominante (Tenor), Modulation in die Durparallele. Hier nun (Takt 23) Thema im Alt, Rückkehr nach c-moll, in dieser Tonart abschließend zwei Einsätze in Sopran und Baß. In den Kontrapunkten wird – leider mit Monotonie heraufbeschwörender Wirkung – das Kopfmotiv des Themas jeweils nach dessen Einsatz imitierend aufgegriffen.
In Takt 37 lernen wir das zweite Thema kennen:
Erscheint es in der Pedalstimme , entkleidet es Bach – wie so oft – um der besseren Ausführbarkeit willen seiner Sechzehntelkolorierung:
Das Thema wird zu einer quasi dreistimmigen Fuge verarbeitet, nur der Schluß ist (eher homophon) vierstimmig ausgesetzt. Nach der Exposition (Alt/ Sopran/ Baß) folgen Zwischenspiel und Baßthema in der Molldominante (Takte 46-52), Einsätze in c- und f-moll (Alt Takt 50 / Sopran Takt 55), der Rest verweilt in der Grundtonart (Takte 57-70): Thema Takt 55 im Alt, zweistimmiges Zwischenspiel, dazu dann Tenoreinsatz Takt 63, abschließender Baßeinsatz Takt 66.
Im 3. Teil kommt es zur Kombination beider Themen:
Man beachte den Imitationseffekt zwischen beiden in Takt 72! Der dritte Teil ist der musikalisch stärkste des ganzen Werkes. Litten der erste Teil an der Monotonie des Themas, der erste und zweite Teil zusammen an Kurzatmigkeit infolge häufigen, vollständigen Abkadenzierens nach jeder Themendurchführung, so ergibt sich hier endlich weiträumigere Spannung, großzügigerer Fluß, geschicktere Verzahnung der Einzelabschnitte. Harmonisch verläßt dieser Teil nicht die Bereiche Tonika (c) und Molldominante (g).
Einsatzpaare: 71/71 (Tenor/Alt, c), 73/74 (Baß/Sopran, g), 77 (Baß/Sopran, c), Zwischenspiel, 82 (Tenor/ Sopran, g), 85 (Baß/Tenor, c), 88 (Alt/Baß, g), dann schönes vierstimmiges Zwischenspiel mit wirkungsvollem Abfluß aufgestauter Energie, 96 (Baß/ Sopran, g). Ein weitausgesponnenes, kadenzierendes bzw. codaartiges Duo zwischen Tenor und Sopran in Sechzehnteln leitet zu den Schlußakkorden.
In der Schlußtokkata (4.Teil) wird – im Gegensatz zum vorherigen – der junge Bach mit dem typischen, hartnäckigen Festhalten an einem einzigen, eigentlich unbedeutenden Motiv
stilistisch noch einmal ganz greifbar (vgl. die etwa zur selben Zeit entstandenen Cembalotokkaten!). Reizvoll ist das Ende: nach pompösem Laufwerk, das auf einen majestätischen Schluß hinzuarbeiten scheint, werden wir mit folgender, humoristisch-launig abreißender Wendung entlassen:
Ein frühes Beispiel der Bachschen Vorliebe für leicht genommne, “abreißende” Schlüsse, die ihn durch sein ganzes Komponistenleben hindurch begleitet hat (vgl. bei den Orgelwerken BWV 532, 536, 547, 564, 575 u. a. m. ).
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- Zuletzt aktualisiert: 24. September 2015
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