Entstehungszeit: Weimar (1714/16)
Unter allen fünf nach heutigem Wissensstand authentischen Konzerttranskriptionen Bachs für Orgel (BWV 592-596; 597 scheidet aus) ist das Concerto in d-moll sowohl dem hohen musikalischen Wert seiner Vorlage nach wie durch die meisterliche Adaptation an den andersgearteten Klangträger Orgel am bedeutendsten. Gleich BWV 593 entstammt es direkt (anders als 594!) Vivaldis berühmtem, 1711 (oder vielleicht schon etwas früher) in Amsterdam im Druck erschienenen “L’Estro Armonico”, und ist dort als Concerto in d-moll für zwei Violinen, Violoncello, Streicher und Basso Continuo ausgewiesen (op.3/Nr.11; RV 565).
Die Transkription des d-moll-Konzertes ist als einzige im Autograph erhalten. Sie steht auf einem Papier, das Bach laut Wasserzeichenbefund von 1714 bis 1716 verwendete (A.Dürr); auch die Handschriftanalyse (von Dadelsen) weist in diesen Zeitraum (“kaum vor 1714, aber wohl auch nicht mehr nach 1717”). Der Umstand, daß Bach das Manuskript lediglich mit “Concerto a 2 Clav: & Pedale” überschrieben, sein Sohn Wilhelm Friedemann aber in seiner tragischen Altersphase charakterlicher und existenzieller Labilität ein “di W.F. Bach, manu mei Patris descript.” fälschend hinzugefügt hatte, sorgte in der Zeit der Wiederentdeckung und Neu- bzw. Erstveröffentlichung des Bachschen Schaffens im 19.Jahrhundert für viel Unsicherheit und Verwirrung, obwohl die Autorschaft Vivaldis wie Bachs aus seinerzeit noch zahlreicher als heute vorliegenden, anderen Quellen erschließbar war. Erst 1910/11 (endgültig durch Max Schneider) konnte der wirkliche Sachverhalt aufgehellt werden.
Daß die insgesamt 20 Instrumentalkonzerttranskriptionen Bachs ihre Entstehung möglicher-, ja plausiblerweise Anregungen oder Wünschen des jungen Prinzen Johann Ernst von Sachsen-Weimar verdanken, wurde bereits anläßlich der Besprechung von BWV 592 erwähnt. Johann Ernst hatte 1711-1713 eine Bildungsreise in die Niederlande unternommen, von der er viele neue Musikalien (auch die acht Stimmbände des “Estro Armonico”?!) und die Kunde von konzertantem Orgelspiel außerhalb des Gottesdienstes mitbrachte. Sicherlich wurde besonders während des Jahres, das der Prinz anschließend am Weimarer Hof verlebte (Juli 1713 bis Juli 1714), vieles von dem Neuen in der Hofkapelle und an der Schloßkirchenorgel praktizierend assimiliert.
Die außerordentliche Bedeutung des Vivaldischen Konzertstils für Bachs weitere kompositorische Entwicklung, also die Vermittlung und Schulung einer disponierenden Kompositionsweise (siehe BWV 593), welche sich aber nicht allein auf Großform und Wechsel der Besetzung auswirkte (Tutti/ Concertino), sondern auch an die Stelle evolutiven, fugenhaft oder motivischen Fortspinnens und Wucherns weiträumige, konzertante Diktion treten ließ, ist auf diesen Seiten immer wieder betont worden. Obschon Bach diese Transkriptionen nicht geschrieben hat, um sich in ihnen den neuen Stil im Sinne einer Studienarbeit anzueignen, ist es doch faszinierend, authentisch mitzuerleben, wie sich hier beide Komponisten im Notentext begegnen und wie der in Rede stehende künstlerische Adaptionsprozeß konkret sichtbar wird.
Noch fesselnder als in BWV 593 ist es, die Bachsche Bearbeitungstechnik im einzelnen zu verfolgen. Seine Eingriffe in den Vivaldischen Text wollen zunächst einmal den komplex verschränkten Streichersatz zu einem spieltechnisch darstellbaren und der Orgel gemäßen Tongefüge umformen. Viele der adaptierenden Änderungen und Zusätze führen gleichzeitig zu einer Vertiefung des musikalischen Gehalts oder werden sogar allein zu letzterem Zweck vorgenommen. – Betrachten wir einige Einzelheiten und, damit verbunden, den Ablauf des Werkes, das im übrigen so gut mitverstehend zu hören ist, daß auf eine durchgehende Analyse verzichtet werden kann:
Der 1.Satz besteht aus einer solistischen Einleitung (Vivaldi: Allegro; Bach: keine Bezeichnung), einigen Überleitungsakkorden (Vivaldi: Adagio Spiccato e Tutti; Bach: Grave), sowie einer ganz vorzüglichen Spielfuge (Vivaldi: Allegro; Bach: Fuga). Schon optisch ist der Unterschied zwischen Original und Bearbeitung gleich zu Beginn bedeutend:
Bach formt die latente Dreistimmigkeit des Vivaldischen Duobeginns in reale Dreistimmigkeit um, indem er den Orgelpunkt auf d′ aus den Oberstimmen herausfiltert und (mit Prinzipal 8′ registriert) dem Pedal zuweist. Die alternierenden Imitationen Vivaldis ab Takt 6 verwandelt Bach in kanonische Bildungen, wobei er einen Takt hinzukomponiert (10). Die Registrierung (auf 4-Fuß-Basis) mit entsprechend um eine Oktave nach unten versetzten Manualstimmen ergab sich zwingend aus dem geringeren Tonumfang der Orgel gegenüber den hoch hinaufreichenden Violinen. In Takt 21 (=20 bei Vivaldi) läßt Bach für das Pedal, da ab hier im Original selbständige Baßstimme, den Subbaß 32′ und in der linken Hand, welche die Violoncello-Solostimme übernimmt, auf dem Ober-(=Haupt)-werk den Prinzipal 8′ hinzuziehen. Die rechte Hand spielt derweil auf dem Brustpositiv (Rückpositiv) die von Bach ausgesetzten Continuoakkorde – weiterhin in der eingangs verlangten 4′-Registrierung, was von vielen Spielern übersehen wird. Die Schlußtakte bereichert Bach durch eine hinzugefügte Gegenstimme im Sopran.
Die folgenden drei Überleitungstakte wollte Vivaldi piano, im letzten Takt sogar pianissimo wiedergegeben wissen. Bach verlangt dagegen ausdrücklich ein Pleno! Eine kühne, aber orgelgemäße und das Werk durchaus nicht vergewaltigende Entscheidung!
Die Fuge ist bereits im Original, um einiges mehr noch in Bachs Version ein vorzüglich gemachtes, kontrapunktisch ökonomisch angelegtes, dabei brillant und zügig mitreißendes Stück Musik. Ihr Thema
legt es in der ersten Hälfte geschickt darauf an, sich später mit übersichtlichen Kontrapunktformeln gut zu verstehen. In seiner zweiten Hälfte bietet sein Sequenzgerüst wirkungsvoll genutzte Möglichkeiten zu figurativer und harmonischer Ausgestaltung.
Die Vivaldischen Tutti- / Sologegensätze, ebenso die forte-piano-Kontraste und Echowirkungen über dem Orgelpunkt gegen Schluß sind von Bach zugunsten eines einheitlichen Plenoklanges, der sich musikalisch spannend und steigernd auswirkt, eingeebnet. Solch Verhalten mag nachdenklich stimmen, was die rechte Ausführung originaler Orgelfugen Bachs angeht…
Auf den großartigen Schluß der Fuge (bei Bach im Gegensatz zu Vivaldi in Dur!) folgt der herrliche 2.Satz (Largo e Spiccato, ebenfalls in d-moll (!). Nach zwei verhaltenen Einleitungstakten beginnt – piano manualiter begleitet – eine jener unverwechselbaren Kantilenen, die sogleich nur eines assoziieren lassen: “Italien!”. Bach hat an dieser genialen Mischung aus Simplizität und Raffinement bis auf einen, allerdings bedeutsamen Detaileingriff nichts geändert. An die Stelle des originalen
schreibt er zu Beginn des Solos (und ebenso bei der Parallelstelle später) :
Für den Hörer der Orgelfassung wird im 3.Satz zum ersten Male – und damit die Wirkung des Gesamtwerkes steigernd – das Tutti-/Concertinoprinzip relevant. Er setzt auf dem Rückpositiv mit folgendem, fein geformten Gedanken ein:
In dem im übrigen locker gefügten, vieles aneinanderreihenden Stück wächst ihm eine gewisse klammernde und ordnende Funktion zu, weniger durch häufiges Auftauchen als durch seine Prägnanz, die gegen das nur sequenzierende oder auf andere Weise verspielte Figurenwerk auch der Tuttiteile und weiteren Partien absticht. Es ist hier also einmal nicht der Tuttisatz zum Träger des Hauptgedankens gemacht! Ausgezeichnet der gleichzeitig aufwertende Einfall Bachs, die ebenso streichergemäßen wie unorgelgemäßen Tonrepetitionen in den Takten 11 ff. (sowie Parallelstellen)
zu eliminieren und den Abschnitt durch eine erregt geführte Tenorstimme zu gestalten:
Auch im 3. Satz übernimmt Bach nicht die dynamischen Anweisungen Vivaldis. Eine ebenso einfache wie hübsch bereichernde Wirkung erzielen in der triomäßigen Partie gegen Ende (Takte 59-67) die von Bach hinzukomponierten, den Baß alternatim imitierenden Einwürfe der linken Hand auf dem Oberwerk.
Aus den knappen Registrieranweisungen und Hinweisen zur Manualverteilung – es sei daran erinnert, in wie wenigen Orgelwerken Bachs derartiges überhaupt angegeben ist! – läßt sich zumindest eine wertvolle Erkenntnis zur richtigen Wiedergabe mehrmanualiger Stücke Bachs gewinnen: die Registrierungen von Haupt- und Nebenklavieren stehen, wenn nicht ausdrücklich anderes verlangt wird (z.B. im Es-Dur-Präludium), in der Regel nur in farblichem, nicht aber dynamischem Kontrast zueinander.
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- Zuletzt aktualisiert: 22. April 2020
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