Entstehungszeit: vor 1710, wahrscheinlich 1706
Zwei der wichtigsten, weil direkt zeitgenössischen Quellen für das Klavier-/ Orgelschaffen des jungen Bach sind die “Möllersche Handschrift” und das “Andreas-Bach-Buch”. Nach heutigem Wissen stehen sie in engem Zusammenhang (federführend ist derselbe Hauptschreiber) und sind vor 1707/08 entstanden (Zum “Andreas-Bach-Buch” siehe auch BWV 563). Daß ihr Besitzer dem engeren Kreise um Bach angehörte, geht schon aus der Tatsache hervor, daß die beiden Handschriften nicht nur 12 bzw. 15 (16) verschiedene Kompositionen Bachs, sondern auch jeweils einen Eintrag von Bachs eigener Hand enthalten. In der “Möllerschen Handschrift” ist dies die Frühfassung von Präludium und Fuge g-moll (BWV 535a), im “Andreas-Bach-Buch” als Nr. 33 die hier in Rede stehende Fantasia c-moll. Der Komponist der letzteren bleibt ungenannt; in jüngster Zeit konnte aber eindeutig geklärt werden, daß wir es mit Bachs Handschrift zu tun haben. Die späte Aufhellung dieses Sachverhalts hängt u.a. damit zusammen, daß die Fantasia nicht in Noten-, sondern noch in der alten Tabulaturschrift (=Buchstabennotation) aufgezeichnet ist.
Die Vermutung, daß das anonym überlieferte Stück von einem erstrangigen Komponisten stammen müsse, hat schon Max Seiffert bei der Neuherausgabe des Werkes (Organum IV/10) ausgesprochen. Hermann Kellers Verdienst ist es, diese Vermutung auf Bach hin präzisiert zu haben. Sein Hinweis auf die enge stilistisch-musikalische Nähe zur Canzona in d (BWV 588) wäre zu ergänzen durch einen entsprechenden Hinweis auf die “Imitatio” der Fantasia in h (BWV 563). Alle drei Stücke orientieren sich an der italienischen Tastenmusik der ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts (Stichwort: “Frescobaldi”). Der schriftkundliche Befund hat die bisherigen Vermutungen soweit Gewißheit werden lassen, daß die Fantasia c-moll bereits zu der von Christoph Wolff wissenschaftlich betreuten, streng auf Authentizität bedachten Gesamtaufführung der Orgelwerke Bachs in Stuttgart 1983-85 Zutritt erhalten hat.
Um das 54 Takte umfassende, kleine Kabinettstück besser einordnen zu können, lohnt es sich, noch für einen Augenblick den Zusammenhang mit BWV 588 und 563 im Auge zu behalten. Während die Canzona ein Thema mit beibehaltenem Kontrapunkt geregelt fugenmäßig durchführt, verfährt die “Imitatio” anders. Ihr “Thema” unterliegt ständigem Wandel, klingt auf die eine oder andere Weise eigentlich nur locker an. Die Fantasia geht noch einen Schritt weiter. Bis auf wenige en passant-Imitationen entwickeln sich die Stimmen völlig frei. Canzona – Imitatio – Fantasia: dieselbe Tonsprache in verschiedener Diktion! Es dürfte reizvoll sein, die drei Stücke in einem Orgelprogramm als geschlossene Werkgruppe geboten zu bekommen. Betrachten wir nun speziell die Fantasia. Sie setzt mit einem kleinen Duo ein (Notation noch nach älterer Gepflogenheit in c-dorisch):
In Takt 7 gesellt sich der Baß stiltypisch mit einer chromatischen Abwärtslinie dazu (reizvolle Kunstpause in den Oberstimmen!); in Takt 9 vervollständigt der Alteinsatz die Vierstimmigkeit. Sie wird aber fürs erste zugunsten einer flexibel interessanten Gesamtgestaltung noch nicht länger durchgehalten. In Takt 17/18 kadenziert Bach interpunktierend auf der Dominante ab. Die folgenden Partien (19-22-31) sind kleingliedrig gestaltet. Sie münden in einen spannungsvollen, über drei Oktaven reichenden und ab Takt 35 konsequent vierstimmig gehaltenen Aufschwung, der die zuvor aufgelockerten Kräfte wieder energisch bündelt. Höhepunkt ist Takt 39, wo Bach das bislang ausgesparte hohe c′′′ wirkungsvoll ein einziges Mal plaziert! Wenige Takte später scheint die Musik am Ende, aber die Kadenz erweist sich als Trugschluß:
Vorhaltgesättigt, reich an interessanten harmonischen Verknüpfungen geht es noch einmal 12 Takte lang in ruhigeren Gefilden (Wechsel des Metrums!) bis zum vollgriffigen Schluß weiter, der zwar dominantisch-authentisch vorbereitet, überraschenderweise dann aber doch plagal inszeniert wird.
Das hohe tonsetzerische Niveau des Werkes basiert vor allem auf zwei Vorzügen: zum einen auf frischer, wendig-einfallsreicher Führung und Fügung des Satzes, zum anderen auf phantasievoller, rhythmischer Nutzung eines vielfältig gedeuteten 6/4-Metrums. Es ist erstaunlich, wie weit sich Bach diesen damals schon historischen Satzstil als persönliches Ausdrucksmittel anzueignen wußte. Wir hören hier mehr als eine Stilkopie: wir werden Zeuge einer schöpferisch weiterentwickelnden Assimilation, die besonders in der Schlußpartie zu ganz eigenständigem Gepräge findet.
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- Zuletzt aktualisiert: 22. März 2014
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